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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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machen wolltest, also tu es jetzt, bring mich um, du hast den richtigen Moment gewählt.
    Ich schloss die Augen voller Tränen, die nicht aufhören wollten zu fließen, die Hände voller Stofffetzen. Draußen Regen und Wind und Blitz und Donner. Ich kniff die Augen zusammen, ballte die Fäuste. Ich spürte ihre kalten Handgelenke auf meinen Schultern. Dann die Unterarme. Den Druck ihrer Arme, die sich fest um meinen Hals schlossen. Ihre Brust an meiner. Ihr Kopf hinter meinem. Sie schloss mit Gewalt ihre Arme um meinen Körper, der zitterte.
    Ich öffnete die Augen.
    Ich erwiderte ihre Umarmung, so fest ich konnte, auch wenn es mir nicht gelang, mit dem Zittern aufzuhören. Ich weinte an ihrer Brust, der Rotz lief mir aus der Nase auf ihre Schlüsselbeine.
    Als ich aufschaute, sagte ihr Blick mir: Schatz, ich hab dir gesagt, du sollst mit niemandem mehr reden, versprich es mir.
    Ich wischte mir den Rotz mit dem Ärmel ab.
    »Aber Chinesisch kann ich weiter lernen, oder?«
    Nur die Schrift. Keine Betonungen. Keine Ad-hoc-Übersetzungen. Lass einfach die Worte sein, ganz gleich, um was für eine Sprache es sich handelt.
    Das Fenster fiel mit einem Knall zu.
    »Ich verspreche es.«
    Ich ging nicht mehr aus dem Haus. Ich lag auf dem Sofa, schaute blöde Fernsehserien und las die Werbeblättchen, die man uns vor die Haustür legte. Dabei lieferten die Serien mir nur ein sehr dürftiges Sammelsurium von Radikalen. Besonders die Wiederholungen von Baywatch , in denen nur Menschen vorkamen, die tagsüber am Strand waren und nachts soffen, und wenn man bedenkt, dass das Meer und der Alkohol denselben Radikal haben, kann man sich vorstellen, wie langweilig das war, es mir wieder und wieder auf den Körper zu schreiben, immer das gleiche Zeichen auf jeden Finger. Kein Wunder, dass ich jedes Mal einschlief.
    Wenn ich dann wieder aufwachte, ging es mir schlechter als zuvor. Selbst die tückische Sonne, die durchs Fenster hereingespäht hatte, als ich Wen anflehte, mit mir zu schlafen, war verschwunden. An ihrer Stelle dümpelte ein Werbeballon von Virgin am Himmel.
    In der Zwischenzeit häufte sich der Dreck auf meiner Mutter, die sich nicht nur nicht mehr wusch, sondern sich auch nicht mehr vom Sofa wegbewegte. Sie war zur Landebahn für alle möglichen Krabbeltiere geworden, worauf sie ganz gewiss auch noch stolz war, weil sie keinerlei Anstalten machte, auch nur eines der geflügelten Ungeheuer zu verscheuchen, die sie vollkackten. Im Fernsehen begann eine Modenschau im Southwark Exhibition Centre, eine von denen, die ich früher, als ich noch fünfzehn war, an jedem ersten Samstag des Monats mit ihr besucht hatte, und wie aufgeregt waren wir jedes Mal im Bus gewesen! Doch meine Mutter zog nur das Gesicht, das bedeutete Schalt um! , als wüsste sie nicht, dass die Fernbedienung für immer in den staubigen Tiefen des Sofas verschwunden war.
    Mir genügte eine Woche, um zu vergessen, dass es der zweiundzwanzigste Februar war, auch weil es der dreiundzwanzigste war, ehe ich’s mich versah, und dann der vierundzwanzigste, und ohne dass ich es merkte, war es schließlich März geworden. Auch die Batterien in der Wanduhr waren leer, und neue zu kaufen hatte ich keine Lust.
    Ich traf alle Vorbereitungen für eine weitere Schweigephase, aber wie konnte ich denn nach einem so großen Schritt in die Stille zurück? Wie eine Selbstmörderin hatte ich das Gegenteil gesucht, hatte mich ohne Fallschirm auf das Leben gestürzt, und dabei erwartete mich dort unten auch nichts anderes als ein weiteres verdammtes Loch.
    Ab und zu lieh ich mir den isländischen Film aus, aber zu meiner tiefsten Enttäuschung war tatsächlich immer der isländische Film in der Hülle.
    Ganz allmählich verfiel ich wieder der Angst, die ich schon von klein auf hatte: der Angst vor Geschichten.
    Doch jetzt war es noch mehr: Die Furcht, mich von irgendeiner Geschichte hinreißen zu lassen, führte sogar dazu, dass ich nicht einmal mehr ans Fenster ging. »Man braucht sich bloß die Leute auf der Straße anzuschauen«, hatte Stefano Mega gesagt, in der Hand sein Notizbuch, und so schloss ich für immer die gewürfelten Vorhänge im Wohnzimmer, indem ich die beiden Enden zusammennähte.
    Es braucht nicht viel, um sich von der Geschichte eines anderen Menschen gefangen nehmen zu lassen. Der Blick eines Passanten, die Frage: »Kannst du mir sagen, wo die Woodhouse Street ist?«, das Gefühl, von einer Person, die gerade auf die Straße tritt, im Augenwinkel

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