Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
mein tränen- und rotzverschmiertes Gesicht, meine geschwollenen und roten Augen, meine ungekämmten Haare, meine Hände, mit dieser verdammten Tusche befleckt, meinen gedemütigten Körper, der noch jungfräulicher war als vorher.
Ich werde geschubst, gerate ins Stolpern. Es ist ein Mädchen ganz in Blau, angezogen wie eine Fee. Sie geht an mir vorbei, sieht mich an und lacht, und ihr Freund mit dem Superman-Umhang schlingt ihr den Arm um die Taille, sagt ihr Liebkosungen auf Englisch ins Ohr, die nur sie versteht. Hinter ihnen geht ein nackter junger Mann mit einer überdimensionalen Windel als Lendenschurz und einem Schnuller im Mund Hand in Hand mit Sailor Moon, der schönen Mädchenkriegerin. Sie lächelt, die blonden Zöpfe reichen ihr bis zum Boden, und als sie mich sieht, fängt auch sie zu lachen an. Ich drehe mich weg, halte die Luft an, ziehe die Nase hoch, bis es brennt.
Der Kiosk ist immer noch offen, vor einem Kalender mit sich aneinander kuschelnden Kätzchen drückt Papa Schlumpf mit blau geschminkter Haut Lisa Simpson gegen den Laternenpfahl und küsst sie, und sie lacht und seufzt, biegt den Rücken durch, sagt: »I love you« und hört auch nicht mehr wieder auf, es zu sagen, nicht einmal, als der lächelnde Araber seinen Kiosk schließt und auf Arabisch in sein Handy spricht, lange Wörter, bei denen es sich vermutlich auch um Liebesgeflüster handelt. »I love you«, plappert Lisa Simpson weiter, bis mir davon das Trommelfell platzt, wie von einem Feueralarm, bis mir die Seele platzt. Der hört nicht mal auf, als ich weglaufe, weil aus dem One Stop jede Menge Paare kommen, und ein jedes hat eine überquellende Einkaufstüte in der Hand.
Der Mann mit dem grünen Hemd lacht, und sie lässt, während sie ihn küsst, die Tüte fallen, und heraus kullern zigtausend perfekt gerundete Pfirsiche, rosig schimmernd, und Himbeeren, und eine Schachtel Kokoseis, und dort gleich daneben auf dem Gehsteig nimmt ein Junge in Shorts einen Schluck japanischen Pflaumenwein, den er gerade erst aufgemacht hat, und reicht die Flasche an seine bezopfte Freundin weiter, die ihm auf Dänisch oder Schwedisch, was weiß ich, antwortet, was aber mit Sicherheit »Ich liebe dich« bedeutet, und mir tut der ganze Körper weh.
Es fängt zu regnen an, zuerst nur leicht, dann stark. Es ist ein Regen mit dem typischen Geruch nach Dingen, deren Leben zu Ende ist, die Luft wird zum tödlichen Gas einer Vergangenheit, die wiederkehrt, eines Morgengrauens voll lebendiger Erinnerungen.
Nur meine Beine gehen weiter und weiter. Wie der Schwanz einer Eidechse, die schon längst tot ist.
Hinter der Mauer verbotener Schönheit hervor mischen sich die tiefen Töne mit zigtausenden von Remix, einer über dem anderen. Beyoncé und Scissor Sisters, das Techno-Lied von Tori Amos, eine Orgie aus Beats und durchbrochenen Stimmen, und ab und zu schreit Whitney Houston aus der Ferne, dass sie ihn immer lieben wird, nur um dann im Gelächter der Leute zu verhallen, es gibt eine Party, bei der aber nur Paare Zutritt haben.
Zwei Power Ranger mit Armaturen aus Plastik kommen an mir vorbei, der eine hat seine schillernden Hände um die Hüfte von Heidi gelegt, der andere hält Händchen mit Minnie Mouse, die einen superkurzen Rock trägt. Die Power Rangers gehen zu Lawson, um Cider zu kaufen, Minnie dreht sich um, sieht mich und lacht mich unter ihrer Pappmachémaske aus, sie lacht mit Heidi in ihrem rotgelben Kleidchen, und sie sagen etwas in einer englischen Geheimsprache, einem Morsecode aus Konsonanten und Vokalen.
Der Regen wird stärker, ich laufe weiter, mir tun die Muskeln weh, und mir wird übel. Ich gehe den verkleideten Pärchen aus dem Weg, so gut ich kann, aber sie sind überall, sie marschieren zu zweit auf die Pubs der Woodhouse Lane zu, auf das Happy Chick und das White Horse und das Library, wo man die Seiten der Bücher nur dafür hernimmt, Liebesbriefe draufzuschreiben. Und alle lachen über mich, ständig sagen sie »I love you«, ohne auch nur einmal Luft zu holen, einschließlich Bush, der Fred Feuerstein streichelt, und Grandma Duck, die Freddy Krueger die Wange abschleckt. Nicht einen Moment lang halten sie still, sie gehen weiter und weiter, begierig darauf, sich die alkoholischsten Biere hinter die Binde zu kippen und dem Partner die Zunge in den Mund zu stecken, bloß um mir durch das Fenster zu zeigen, dass es auf der Welt jede Menge Liebe gibt, nur nicht für mich.
Dieses Spielchen nennt sich Otley Run, und dabei geht
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