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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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wahrgenommen zu werden, und schon stehst du zu deinem Unglück wieder am Fenster. Und dann passiert es wieder, dass sich im Asphalt ein Loch auftut, das deine Geschichte und die von Liz Turpey verschlingt, die ihr beide schuld daran seid, dass aus zwei Geschichten eine geworden ist.
    An dem Tag nach dem nicht nummerierten Tag schaltete ich den Fernseher ein, und meine Mutter schreckte auf dem Sofa aus dem Schlaf hoch, die blaue Hornisse, die auf ihr geschlafen hatte, surrte von ihrer Schulter weg, fand jedoch das Fenster geschlossen vor. Auf Channel 4 sprach jemand mit einer so affigen Londoner Stimme, dass sie künstlich wirkte, über einen Geschichtenerzähler namens Jean de la Vitte aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Hornisse donnerte schon zum sechsten Mal gegen die vermummte Fensterscheibe. Da ich wusste, wie gefährlich Geschichten sind, erstaunte es mich nicht im Geringsten, als es im Fernsehen hieß, jenem Geschichtenerzähler seien Zunge und Hände abgehackt worden. Die Tatwaffen.
    Was für eine Tat denn, Schatz?
    »Kümmere dich nicht drum, Mama, alles in Ordnung.«
    Ich schaltete den Fernseher aus. Die Hornisse brach unter dem Fenster zusammen.
    Die Tage waren immer weniger nummeriert. Jeder Tag setzte alles daran, weniger nummeriert zu sein als der vorherige. Eine Zählung, die von null ausgeht, zu null zurückkehrt und bei null bleibt, immer weiter, bis man sich von der Brücke in Knaresborough stürzen könnte.
    An einem hemmungslos unbestimmten Tag zu einer schamlos undefinierten Uhrzeit bepflasterte ich auch das Fenster meines Zimmers mit Schriftzeichen. Jetzt konnte wirklich niemand mehr, ob nun Jean de la Vitte oder Wen, meine Geschichte nehmen, um sie zu malträtieren.
    Ich hatte meiner Mutter versprochen, mit den Geschichten Schluss zu machen. In Wirklichkeit hatte ich das bereits am Tag der Beerdigung meines Vaters beschlossen. Ich war ebenso wenig hingegangen wie meine Mutter. Doch Blumen hatte man uns trotzdem geschickt, die buschigen Köpfe von Chrysanthemen klopften an die Tür, in den Händen von menschlichen Wesen. Ich legte die Kette vor, doch der Duft drang dennoch durch den Spion, dieser allegorische Duft, den weiße Blüten verströmen, kam herein, auch wenn meine Mutter sich ein Kissen über den Kopf legte, auch wenn zwischen uns und der Tür drei große Müllsäcke unsere Schleimhäute beschützten.
    Eine riesige violette Nelke stand direkt unter dem Fenster. Was für eine Idiotin ich doch war, es offen zu lassen.
    Ich rannte hin, um es zu schließen, und bekam ein kreuzförmiges Gesteck aus roten Rosen ins Gesicht. Daran hing immer noch die Karte eines Blumenladens, der sich auf Begräbnisse spezialisiert hatte, und auf der stand: »Bei uns ist Trauer Trend!«
    Nein, in meiner persönlichen Geschichte bin ich nicht verrückt. In der von meiner Mutter, na ja, meine Mutter kann überhaupt gar kein Teil einer Geschichte sein, weil sie nicht spricht, und was ist heutzutage schon eine Geschichte ohne Dialoge?
    Nach der Invasion der Blumen tauchte sie unter dem Kissen hervor und fragte mich mit ihrem Blick: Ist es endlich vorbei?
    Sie war gealtert.
    »Ja, Mama, es ist vorbei, sei ganz beruhigt.«
    Ich ging auf das Minenfeld aus Blumen hinaus. Ich sammelte sie vom Asphalt auf, eine nach der anderen. Da gab es Gestecke in allen Farben und Formen. Lilien und Gladiolen. Nelken und Schleierkraut. Bereit, unerwünschterweise unsere Trauer zu parfümieren, ohne Erlaubnis, nur damit sich jemand wie ein guter und anständiger Mensch fühlte.
    Mittendrin thronte ein Herz aus Nelken und Rosen, und auf dem Kärtchen stand: »Der Tod raubt uns den geliebten Menschen nicht ganz, denn es bleibt immer das, was er geschaffen hat.« Klar bleibt es das – wie könnten sich denn auch die Affären meines Vaters in Luft auflösen? Ich zerdrückte den Stängel der Nelke, die den Auftakt machte, mit der Faust. Nicht umsonst war es eine violette Blutnelke – welch schöne Vorahnung auf das Gemetzel, das ihnen bevorstand!
    Ich amputierte alle Blumen mit meinem Schweizer Offiziersmesser, und zwar nach Farbkriterien: zuerst Rot, dann Rosa, und am Ende Weiß.
    Radikal für »Farbe«: »Messer«.
    Meine Mutter hatte den Kopf wieder unters Kissen gesteckt. Ich rüttelte sie an der Schulter und sagte ihr mit einem Blick: Der Weg ist wieder frei.
    Auf dem Nagel meines Daumens hatte ich das Blütenblatt einer Goldrute.
    Sie gab einen Seufzer von sich, der Endlich bedeutete, und ich begleitete sie auf ihr

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