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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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nachträglichen Selbstmordgelüsten. Während ich litt, so wie ich immer gelitten habe, seit Gott das Licht von der Finsternis schied.
    Sie hatte wohl nichts gegessen. Sich nicht gewaschen. Den Kopf nicht vom Kissen gehoben. Und wenn ich aufhören würde, mich um sie zu kümmern, würde sie dann so leicht sterben? Es ist unglaublich.
    Ich schaute mir die Klamotten an. Ich würde bei dem Pullover anfangen, den Wen mir heute nicht ausgezogen hatte, und bei der Jeans weitermachen, die er mir nicht aufgeknöpft hatte.
    Draußen vor dem Fenster, hinter der dicken Schicht aus Staub und anderem undefinierbarem Dreck, öffnete sich der Himmel wie ein Vorhang vor einem neuen, abartigen Hagelsturm.
    Ich nahm die Schere und schickte den blauen Pullover in die Hölle aus siebzig Acryl dreißig Wolle. Zuerst amputierte ich den ganzen Teil, der die Brust bedeckte, welche Wen niemals sehen wird. Wenn überhaupt etwas zu sehen ist, weil meine Brust nur ein A-Körbchen hat.
    Und wenn du bis drei zählst, mein Schatz .. Nur drei Jahre später …
    Eins, zwei, drei. Aber ich weiß schon, was passiert.
    Ach ja, du weißt es schon?
    Ja, ich werde immer noch die Brust eines Kindes haben.
    Eines Kindes, das auf seinen Papa wartet, der jedoch weit weg ist und gerade bumst. Ein Kind, das sein chinesischer Taschenliebhaber nicht haben will.
    Ich nahm eines der Schriftzeichen nach dem anderen von der Wand. Nähte sie auf die Löcher wie Bedeutungsprothesen. Als der Hagel aufhörte, befanden sich über meiner Brust die vier Striche für »Nein«, was »Bu« heißt, so wie wenn ein Gespenst mit ausgebreiteten Armen aus dem Dunkel tritt und »Bu!« ruft, um dich zu erschrecken.
    Anstelle meiner Arme der Satz: Geht nicht.
    Ich lachte. Ich weinte.
    Ich bedrohte die Augäpfel mit der Schere. Und versucht noch mal zu tränen.
    Versucht noch mal, mich glauben zu machen, es sei die Schönheit, die ich suche. Als wäre ich so banal. Die Schönheit ist schon da. Sie ist überall. Die Schönheit hat Gott in sechs Tagen gemacht, und von da an ging sie nicht mehr weg, sie ist in allem, was um dich herum wächst, ohne dass es jemand erlaubt hat. Für die Hässlichkeit hingegen braucht man den Menschen, um sie zu erschaffen, sie ist ein Bruch der kosmischen Ordnung, eine Widersinnigkeit. Man braucht den Menschen, um Zement über die Gardenien zu gießen.
    Die Hässlichkeit ist menschlicher. Sie ist Macht. Sie ist eine wahre Geschichte ohne Moral, die bei meiner Schere beginnt und beim geblümten Acryl aller glücklichen Pullover aufhört.
    Die Hässlichkeit ist ein Ghetto, das bei mir zu Hause in meinem Zimmer im ersten Stock liegt. Die Hässlichkeit, das sind die Gene in meinem Körper, die die Seele dem Teufel verkaufen und den Erlös für die Waisenkinder bei der UNICEF spenden.
    Es klingelt das Handy. Eine SMS von Jimmy.
    Lauter leere Kästchen.
    Ein Kreuzworträtsel?
    Ich schreibe ihm: »Jimmy, auf meinem Handy kann ich keine chinesischen Schriftzeichen lesen.«
    Und er: »Ich hab geschrieben: Morgen wieder nach Scarborough. Okay?«
    Ich amputierte das rechte Hosenbein der Jeans ohne Betäubung. Und hängte es an die Wand mit nur einem Nagel, wie ein Zyklop.
    Es war ein: »Klar komme ich mit nach Scarborough, und dann schwimmen wir, bis wir untergehen.«
    Und er: »Du bist schön, und wenn ich an dich denke, muss ich den ganzen Tag an mir herumspielen.«
    Am Mittwoch, dem neunzehnten März, kam meine Mutter, während ich Kaffee kochte, splitterfasernackt in die Küche.
    Es war eine animalische Nacktheit, wie aus einem dieser Tierfilme, als sie den Raum in dieser geduckten Haltung betrat, als könnte sie mich jeden Moment aus atavistischer Begierde anspringen und verspeisen.
    Sie bewegte sich auf die Regalfächer über dem Spülbecken zu, kramte mit ihren langen, knochigen Händen nach der Müslipackung. Dann drehte sie sich zu mir um. Livia Mega auf Discovery Channel. Ich, die vor ihren Fängen floh. Die Engländer, die einfach umschalten.
    »Mama, was zum Teufel …«
    Ihr Körper drehte sich zu mir. Die beschämende Nacktheit ihrer Venen, die wie geschwollene Phrasen auf ihre Beine gemeißelt waren, und die Nacktheit der Knochen, wie winzige Nekropolen, die sich unter der Haut an ihrem Hals abzeichneten, an ihrem Brustkorb, rund um die weichen Dünen ihrer Brüste. Und dann die scheelen Flecke ihrer Brustwarzen, hervorgereckt wie das Euter einer Kuh. Bedürftig wie das einer Kuh.
    »Mama, schäm dich, geh dich anziehen!«
    Sie antwortete mir mit dem

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