Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Blick, der bedeutete: Schäm du dich! Nicht nur, dass du wieder angefangen hast zu reden, jetzt schläfst du auch noch mit einem Jungen, den du nicht liebst, ohne es demjenigen zu sagen, den du liebst.
»Wie bitte? Was erlaubst du dir? Kümmere dich um deinen eigenen Kram. Und was weißt du eigentlich schon über die Liebe, über den Sex? Was kapierst du eigentlich noch, wo du zum Gemüse geworden bist? He? Sag, was machst du denn jetzt, Mama? Hau doch ab, Mensch!«
Ich warf den Espressokocher vom Tisch. Meine Mutter stöhnte auf, als sie sah, wie der Metallbehälter über die Fliesen rollte, schließlich zum Liegen kam und dabei seine schwarze Flüssigkeit von sich gab.
Ich lief in mein Zimmer. Schaltete den Computer ein. Gab die Worte: »Fotokurs« in die Suchmaschine ein.
Ich klickte auf: »Online-Anmeldung«.
Ich schrieb alles auf ein Blatt Papier. Die Straße und die Hausnummer. Das genaue Programm. Was man zum Unterricht mitbringen sollte. Den Einführungskurs durch den Fotografen. Und ich musste geradezu unmenschliche Anstrengungen unternehmen, nicht auch noch die Namen der Schüler aus dem vorigen Jahr abzuschreiben.
Ich ging hinunter. Drückte ihr das Blatt in die Hände.
»Schau mal, Mama, ich hab dich angemeldet, es ist zweimal die Woche, ich sorge auch dafür, dass du wirklich jedes Mal hingehst. Hast du das verstanden oder nicht?«
Interessiert mich nicht, lautete ihre stumme Antwort.
Ich ging hinaus.
Direkt vor dem Friedhof traf ich auf eine bewusstlose Gruppe von Fuchsien. All dieses Chlorophyll, dieser Wind auf den Blütenblättern, dieses nervtötende Warten darauf, sich endlich unter der geizigen Sonne von Leeds zu öffnen, wenn man mir doch einfach nur einen Jugendlichen aus der Christopher Road schicken könnte, damit er mich mit dem Messer abstach.
Um diese Zeit war es im Stadtzentrum angenehm frisch, und vor allem waren wenig Leute unterwegs.
Jimmy erwartete mich vor dem Bahnhof, und als er mich kommen sah, lief er mir entgegen wie ein treuherziger Cocker-Spaniel. Er trug einen gelben Pullover mit der Aufschrift »If I reborn I am California party hero«, darunter chinesische Schriftzeichen. Er umarmte mich zu fest. Die Blütenblätter der gemarterten Fuchsien fielen mir aus den Fäusten.
»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
»Ja, ich weiß, ich bin spät dran.«
»Nein, nein, mach dir keine Gedanken, du bist wunderschön!«
»Dabei hab ich mir die Haare nicht gewaschen! Komm, wir kaufen die Fahrkarten.«
»Schon geholt!« Er zog sie aus der Tasche wie ein Zauberer ein Kaninchen aus seinem Zylinder.
Im Zug hatte ich wieder meine Freude an der verrückt vorbeiziehenden Landschaft. Felder, Felder, Schafe. Dann ein schmaler Streifen aus Häusern, wie ein roter Schal.
Die Sonne ging mit mir auf, ging auf, weil ich sie anschaute. Sie nahm alles Grün von den Weiden und das Weiß von den Schafen.
»Jimmy?«
»Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich noch an den Film von Zhang Yimou, in dem diese Kalligraphieschule angegriffen wird und alle, statt zu fliehen, beschließen, weiter Schriftzeichen zu schreiben, während die Pfeile sie treffen und sie sterben?«
»Ich sehe mir keine Filme an.«
»Warum denn nicht? Und was machst du den ganzen Tag?«
»Schau doch, dort!«
»Was denn?«
»Die Schafe mit den blauen Markierungen! Warum malen die die an?«
»Schätze, um sie auseinanderzuhalten.«
»Mir gefallen die roten besser, siehst du sie? Machen wir es so – die roten sind meine, und die blauen deine!«
Sein langer Finger, der nach unten zeigt. Ich, die ich verächtlich schnaube.
»Warst du schon mal verliebt, ja oder nein?«
»Mein Bier.«
»Ich glaube, dass wir es ausnutzen müssen, bevor wir sterben.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Nur so ein Gedanke.«
Ich erschauderte. Wusste er etwa schon, dass er bald in ein Loch fallen würde? Wenn meine Mutter bereits von ihm wusste, dann wusste er ja vielleicht auch von ihr, von meinem Vater, von dem Loch, in dem er für immer versunken war, von dem, in dem er bald versinken würde. Was weiß ich – schließlich habe ich drei Jahre ganz zurückgezogen gelebt –, was die Leute von der Welt und vom Leben anderer wissen, von dem, was die Chinesen wissen, was ihre Schriftzeichen wissen, mit all den Radikalen, die das ganze Universum kennen.
So wie im Buch der Wandlungen, diesem alten chinesischen Handbuch, aus dem man lernt, wie man die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft eines Ereignisses gleichzeitig liest. Das
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