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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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denn?«
    »Ich weiß nicht. Einfach so, zum Spaß. Etwas mit dir zusammen machen. Heute Abend. Hast du eine Idee?«
    »Na ja, vielleicht schauen wir uns einen chinesischen Film an, damit du die Sprache üben kannst.«
    »Was hast du denn für einen Film?«
    »Ich hab einen sehr schönen. Er heißt The Hole und ist von Cai Mingliang.«
    »Wovon handelt er?«
    »Von einem Jungen und einem Mädchen, die über ein Loch kommunizieren, das sich in ihrer Zimmerdecke und gleichzeitig in seinem Boden gebildet hat.«
    »Und dann treffen sie sich?«
    »Nein.«
    »Aber wie das denn – die wohnen im selben Haus, nur ein Stockwerk übereinander, und treffen sich nicht?«
    »Nein. Möchtest du noch ein Qingdao-Bier?«
    »Ja. Schauen wir uns den in deinem Laden an? Das heißt, du fährst heute Abend wohl nicht nach Knaresborough, oder?«
    »Nein.«
    »Nein was?«
    »Ja, entschuldige, ich meinte, im Geschäft ist es okay.«
    Nach dem Essen gingen wir auf die Straße hinaus, wo der Regen überfror. Meine Finger in den Taschen brannten und pulsierten. Sonst war niemand da. Wir gingen schnell, im Gänsemarsch, durch die eisige, mondlose Nacht, als diente das Gehen zu nichts anderem als dem Aufwärmen.
    Wir kamen auf der Woodhouse Street heraus. Sie war menschenleer, auch wenn die Neonlichter immer noch Speisen in allen Farben feilboten.
    »Wen, ich freue mich auf den Film.«
    Er warf mir ein winziges Lächeln zu, ohne mich dabei richtig anzuschauen. Ich dachte an Knaresborough zurück und beschloss, dass auch die Woodhouse Street ein Ort war, der nur uns allein hatte.
    Und dann Headingley, das nur uns allein hatte.
    Die stillgelegte Kirche, die nur uns allein hatte.
    Das dunkle Geschäft von Wen, das nur uns allein hatte.
    Kaum waren wir dort, blieb ich voller Erstaunen und Dankbarkeit stehen.
    Ich konnte es nicht glauben. Es war ein Wunder, dass wir einfach nur ein wenig gehen mussten, um an den Ort zu gelangen, wo wir gleich ganz nah nebeneinander sitzen würden.
    »Mensch, Wen, findest du nicht, dass das im Dunkeln aussieht wie ein Tempel? Die hab ich im Internet gesehen, diese buddhistischen Tempel …«
    Er sucht in der Tasche seiner roten Bomberjacke nach dem Schlüssel, ich stelle mir vor, wie das kalte Metall auf seine kalten Finger trifft. Er dreht den Schlüssel im Schloss.
    »Ach, Wen, hat der Film Untertitel? Wenn nicht, mach dir keine Gedanken, ich schau ihn mir trotzdem an. Ist weniger kalt jetzt, findest du nicht?«
    Er drehte sich zu mir, die kleine Nase mit den hohen Nasenflügeln, die Brauen wie Kommata, die von Kindern gekritzelt wurden, und der Blick, der immer zu Boden gerichtet war, zu den Schuhen der Menschen und den Hundehaufen.
    »Wen?«
    Das Gesicht leuchtete wie ein Kneipenschild, wenn du gerade am Verdursten bist.
    »Entschuldige, Camelia, ich bin müde. Macht es dir was aus, wenn ich dich nach Hause begleite?«
    Er kam näher und war auf einmal nicht mehr von einem Lampion beleuchtet. Er war kein Kneipenschild mehr. Und wenn du Durst hast, weißt du, was du machst: Du trinkst deinen eigenen Scheißurin.
    »Ich gehe allein. Ciao.«
    »Nein, warte, entschuldige, ich begleite dich.«
    Ich drehte mich um und fing zu gehen an.
    Der Rückweg war länger als der Hinweg, und auch kälter und dunkler, die Mauern waren höher und die Häuser dahinter sahen ferner und schöner aus, ein einziger Komparativ. Ich hatte nicht den Mut, mich umzudrehen und nachzusehen, ob er mir folgte, ob diese Stille wirklich eine Stille war oder ob seine Gummisohlen bloß jeden Laut seiner Schritte verschluckten.
    Auf der Höhe des Friedhofs merkte ich, dass dieser Ort viel lebendiger war als ich, es war ein Fest aus phantasievollen Schatten, da wurde gelacht, und jeder Grabstein war betrunken vom Tod, er lachte mit der Stimme eines Käuzchens, er lachte über Leute wie mich, die immer noch am Leben waren und nicht wussten, was zum Henker eigentlich passiert war.
    Klar wollte ich stehen bleiben und zurückschauen, aber geheimnisvollerweise bewegten sich meine Beine immer weiter und weiter, wie im Mittelalter die Köpfe von Hingerichteten.
    Ich drehte mich um.
    Da war niemand.
    Zu Hause zog ich mir den Pullover und die Jeans aus und legte sie auf den Operationstisch meines Schreibtisches. Wer weiß, was meine Mutter gemacht hatte, während ich im Restaurant aß, während ich hoffte und lächelte wie eine Blöde. Während ich beschlossen hatte, dass mein Leben unvollkommen wäre ohne einen zweiten Cocktail aus Demütigung und Schmerz, mit

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