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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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Headingley schlief bereits, sein Fleisch war die ganze Fläche ohne die Namen auf den Grabsteinen. Es schlief wie ein erschöpfter Gott, lag mit dem Bauch nach oben im Friedhof, verborgen im Tod, aber jederzeit bereit, aufzuwachen und jemanden anzuspringen, um ihn ins Leben zurückzubringen.
    Und wir spazierten darauf herum, schweigend, erregt. Wir öffneten das Gatter, wir umrundeten die Toten, sprachen in unserer chinesischen Geheimsprache auf jeden Grabstein ein. Es war ein Gemetzel aus Betonungen und retroflexen Konsonanten, aus kehligen Projektilen, aus unsichtbaren Schriftzeichen, die sich in jedem Wort verbargen, ein jedes mit seinem zugeordneten Radikal, ein jedes mit seiner eigenen Bedeutung, seiner unzerstörbaren morphosyllabischen Struktur.
    Er: »Der Himmel ist so schwarz!«
    Ich: » Tian zheme hei!«
    Er: »Morgen regnet es vielleicht!«
    Ich: » Mingtian keneng xia yu.«
    Und so weiter, ein Satz nach dem anderen, einer über dem anderen, um den Tod zu töten, um all das zu töten, das den Grenzübergang der Stimmbänder nicht überschreiten konnte, all das, was wir nicht übersetzen konnten.
    Er: »Orte wie dieser gefallen mir!«
    Ich: » Wo xihuan zheyang de difang.«
    Er: »Hast du Hunger?«
    Ich: »Ni e ma?«
    Und dann: »Ja, ich habe Hunger.«
    Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich spürte es in meiner Kehle und in den Zwischenräumen meiner Finger, zwischen den Haaren und in meiner Tasche. Da war nur mein Herz, der restliche Körper war leicht und unbeständig, stets bereit, sich im Wind zu bewegen, als wäre er aus Papier herausgeschnitten, so wie diese Windräder, die die Kinder im Kindergarten basteln.
    Er: »Es ist kein Mond da.«
    Ich: » Yueling bu zai.«
    »Nein, man sagt mei you yueliang.«
    »Aber würde das nicht heißen: ›Ich habe keinen Mond.‹?«
    »Ich hab’s dir doch erklärt, so sagt man.«
    Er machte das Gatter hinter uns zu. Einen Moment lang stellte ich mir die verrückte Frage: »Wollte er nicht mit mir zu Abend essen?« Doch dann wandte er sich in Richtung einer Seitenstraße der Woodhouse Lane, wo nach etwa hundert Metern tatsächlich ein Restaurant auftauchte. Vier rote Schriftzeichen, leuchtend und prall, erhoben sich auf dem Schild, darüber die Transkription: Kongzi fandian, Restaurant des Konfuzius.
    Ich hatte noch nie ein so gepflegtes chinesisches Restaurant gesehen, ganz zu schweigen davon, dass ich in einer solch hässlichen Gegend – in der ich selber wohnte – nie mit einem gerechnet hätte. Zwischen den Tischen standen Trennwände aus Nussholz mit geschnitzten Drachen, rote Papierlampions hingen tief über den Tischen und warfen ein vornehmes Licht, und die Seidenkleider der Kellnerinnen schimmerten. Ich fühlte mich falsch angezogen mit meiner Jeans und dem Pullover mit den aufgenähten Pyjamataschen, die mit Leuchtstift verschmiert waren. Wen hingegen trug Jacke und Krawatte und sah irgendwie seltsam aus mit seinen zurückgegelten Haaren, wodurch man seine Gesichtszüge viel besser erkennen konnte, selbst die feinsten, symmetrischen Details.
    Er machte dem Koch ein Zeichen, der sich entfernte und kurze Zeit später mit einem Holzwägelchen zurückkam, auf dem eine fette, lackierte Ente lag. Die filetierte er vor unseren Augen, wobei er mit dem Messer allerlei schwungvolle Bewegungen vollführte, als handelte es sich um die Demonstration irgendeines philosophischen Prinzips oder eine Kampfkunst, die noch nicht vom Westen banalisiert worden war.
    »Schön, das Restaurant. Wer hat dich hierher gebracht, Wen?«
    »Eine meiner früheren Schülerinnen.«
    »Ach, schau mal, da kommt schon die Kellnerin mit den frittierten Lotusblättern.«
    »Wer weiß, wie wohl frittierte Kamelienblätter schmecken?«
    »Warum ziehst du eigentlich so ein ernstes Gesicht, wenn du einen Witz machst?«
    »Mein Gesicht ist eben so, entschuldige.«
    Das Mädchen lehnte sich über den Tisch und stellte den Teller in die Mitte. Für mich war es ein seltsames Gefühl, ihren üppigen Busen zu sehen – im Übrigen ungewöhnlich für eine Chinesin –, der unter ihrem engen Kleid schmerzhaft eingezwängt war. Ich dachte an das runde Gesicht meines Vaters, wie es sich dort in der Grosvenor Road zwischen die Brüste seiner Geliebten schmiegte. Ich dachte daran mit einem leichten, frischen Schmerz, einem Schmerz, der von meinem Schmerz rührte, aber mit einem Schmusesoundtrack unterlegt und ein paar Oscarpreisträgern geschmückt war.
    »Ich hätte große Lust, etwas zu machen, Wen.«
    »Was

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