Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
er: »Ich und deine Mutter, weißt du, wir haben denselben Schmerz im Herzen.«
Ach, süß. Wie sagt man doch: »Zwei Herzen unter einem Grabstein.« Dabei würde man dich normalerweise in die Klapsmühle schicken, wenn du älter als elf bist und das Wort »Herz« in den Mund nimmst.
»Zuerst lag sie im Koma, meine Frau, ich war immer bei ihr.«
Meine Mutter mit dem Lächeln, das Mitgefühl heißt.
Ich, die ich die Fäuste balle, während mir die Schnittwunden an den Beinen pochen.
Er, der wiederholt: »Die ganzen Schläuche, an die sie angeschlossen war, die Ärmste«, und zwischen einem Wort und dem anderen das Blitzlicht eines sublimen Lächelns, das für das Glück einer neuen Liebe Werbung macht.
Und noch mal: »Am Abend haben wir zusammen gebetet, bis sie schließlich eingeschlafen ist, weißt du.«
Bitte, lass endlich den Abspann kommen!
Von wegen. Francis machte mit seinem Supermarktgeseiere weiter: »Das Leben kann selbst zu den besten Menschen grausam sein.«
Und fügte noch hinzu: »Als sie tot war, habe ich eine Woche lang nicht mehr geredet.«
Was würde man nicht alles sagen, um bei einer verstummten Blondine Eindruck zu schinden!
»Sie hat ein ganzes Jahr lang im Koma gelegen, weißt du, Camelia, und das nur ein Jahr nach meinem Sohn …«
Nein, nicht auch noch der Sohn! Was zu viel ist, ist zu viel. Wie hatte sich meine Mutter nur so einen aussuchen können? Die Wut lähmte mich angesichts eines solchen Mannes, der aus dem Nichts aufgetaucht war, dieser Mann, der so schön war, dass man ihn dafür vor Gericht bringen könnte, und der fortfuhr, mich anzulächeln, bis das Blut kam.
»Mama, geh nicht weg.«
»Komm, Camelia, lass deiner Mutter ein bisschen Freizeit, hm?«
»Was hat er gesagt?«
Meine Mutter zeigte ein Lächeln, das Gehen wir hieß. Sie gingen hinaus und setzten sich ins Auto, eines dieser kleinen japanischen Fahrzeuge, glänzend und schnittig, feuerrot und ohne eine einzige Macke. Die Scheinwerfer brannten.
Sie legte den Gurt an. Ich ging auf sie zu. Er sagte: »Camelia, machst du ein Foto von uns?« und hielt das Handy aus dem Autofenster.
Ich richtete die Kamera auf das glückliche Paar. Hielt sie so, dass alle beide drauf waren und man hinter dem linken Autofenster das Panorama eines Müllcontainers bewundern konnte. Ihr Lächeln war wie das Zitat eines Films, der das Remake eines anderen Films ist, und der wiederum ist nach einem Buch, das auf eine wahre Geschichte zurückgeht.
Ich sage: »Eins …«
Meine Mutter im Wagen mit diesem Wunder von Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht ist.
»Zwei …«
Meine Mutter im Wagen mit meinem Vater und mir, wie wir an den Flughafen fuhren und ich sagte: »Papa, wird es mir in England gefallen?«
»Drei …«
Mein Vater im Wagen mit Liz Turpey, die so etwas sagte wie: »Gefällt es dir, wie ich es mache?«
»Cheese!«
Francis sagte: »Aber jetzt hast du sie ja in die falsche Richtung gehalten!«
Ich schaute nach. Bescheuert. Auf dem Foto war die Tasche des Hosenanzugs abgebildet, den ich trug. Ich schrie: »Aber wann kommst du wieder, Mama?«
Das Auto fuhr weg.
Mir tat alles weh.
Nach ewig langen circa-drei-Minuten begann auch ich mich in Bewegung zu setzen, auch wenn ich die Haustür nicht zugemacht hatte und vor Kälte schier starb.
Ich ging und ging, dann tauchte die Mauer auf, diejenige, die Menschen wie mich von den viel schöneren und immer verschiedenen Häusern trennte. Von den dunkelbraunen Backsteinen, die ein altmodisches Tigermuster aus Moos hatten, von den leuchtend blauen Türen hinter den weißen Zäunen mit ihren Arabesken aus Herzen, von den Lattenzäunen aus schwarzem Gusseisen, vom komplizierten Geflecht der Zweige, die verschlungene Schriftzeichen in den Himmel malen. Wie ein Maulkorb für ein Szenarium, das so schön ist, dass es wehtut. Die Mauer von Headingley ist die chinesische Mauer von Leeds, die mich vor dem Leben beschützt und das Leben vor mir.
Hinter der Mauer, zwischen den Häusern, ergossen sich gewaltige und seltene Pflanzen, mit Blättern, so groß wie Kähne, mit Ästen, so dick wie Laternenpfähle, und breiten Adern, wie Stromkabel. Meine Güte, dort machten sie Photosynthese, ohne Sonne dafür zu brauchen, und die Insekten bezahlten dafür, auf ihnen posieren zu dürfen, und es war offensichtlich, dass sie von allen Krankheiten genasen, selbst vom Tod.
Ich ballte die Fäuste so fest, dass sich meine Nägel ins Fleisch bohrten, doch ich ging weiter, obwohl mir schier der Kopf
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