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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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immer auf der Hut war, das gierig auf meine Worte war, das meine Sätze verschlungen hatte, noch bevor ich sie auf die Welt brachte.
    Sie riss sie mir von der Zunge.
    »Mama, ich …«
    Es waren ihre, bevor es meine waren.
    »Aber warte mal, Mama … Heute ist doch schon der zehnte, die Ausstellung endet morgen, warum sagst du es mir im letzten Moment? Ist es dir denn überhaupt nicht wichtig, ob ich hingehe?«
    Noch ein Lächeln.
    »Aber was lächelst du denn? Ich hab dich in den Kurs eingeschrieben, ich war es, die dich dazu überredet hat, endlich deinen Hintern von diesem Scheißsofa zu erheben, ich bin es, die in all den Jahren …«
    Sie ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. Die Tränen stürzten sich auf meine Wangen wie Kamikaze-Flieger.
    Zwanzig Minuten später war es Nacht. Auf dem Bett ausgestreckt, hörte ich sogar die Käuzchen rufen, doch es war meine Mutter, die einen unruhigen Schlaf hatte. Auch wenn es erst sieben Uhr abends war, und auch wenn sie jetzt eine war, die Fotos ausstellte.
    Der Schmerz an meinen Beinen übertönte alles andere. Quietschquietsch. Noch ein Quietschen von Livia, die sich im Bett herumwarf. Ich ging zu ihr hoch, vielleicht hatte sie ja einen Albtraum. Vielleicht war es ja einer von den schrecklichen, und ich musste sie so fest umarmen, dass es ihr den Atem nahm, und dann würde sie an meiner Schulter einschlafen.
    Ich öffnete die Tür.
    Ein Ozean aus Kleidern schwappte über den Boden. Schimmernde Seide. Angorawolle. Elegante Nadelstreifen-Kostüme. Alles war da. Das französische Kleid mit der gestickten Katze. Die Hose aus dem Ausverkauf mit den geblümten Taschen, das Leinenoberteil mit der Eule, das pfirsichfarbene mit dem russischen Kragen, die getüpfelte Jacke, die ihr meine Großmutter nach der Ausstellung aus Anlass der Hochzeit der beiden Rumänen geschenkt hatte …
    Sie stand auf dem Bett, in ihrem Flatterkleid von Vivienne Westwood mit den Pailletten, den passenden Nagellack auf den Zehen. Sie bewegte sich flink und gewandt, während sie die Schals auseinanderfaltete, die auf dem Regal über ihrem Bett lagen. Ich hatte ihr zu dem Kleid geraten, als wir in London gewesen waren. In meiner Sprache und in der, aus der wir das Wort geklaut haben, sagt man »Pailletten«. In der Sprache meiner Mutter gibt es einen gesonderten Blick zur Bewunderung dieser glitzernden kleinen Scheiben, während du bei einer Hochzeitsfeier die Flöte an die Lippen setzt. Und da ist auch noch ein anderer Blick, weißt du, einer, mit dem du um sie trauerst, wenn du zu deprimiert und zu ausgelaugt bist, um sie zu tragen.
    Sie wählte einen weißen Schal mit himmelblauen Schmetterlingen, und als sie ihn an ihr Gesicht hielt, fragten ihre Augen: Wie sehe ich aus?
    Ich sagte ihr mit einem Blick: Du siehst toll aus, aber wo gehst du hin?, doch sie drehte sich gar nicht um, um zu sehen, wie ich geschaut hatte. Ich hatte ein tränenverschmiertes Gesicht. Dieser Wasserhahn, der jahrelang zugedreht gewesen war, war schrecklich außer Kontrolle geraten.
    Sie ließ den Schal aufs Bett fallen und schaute sich die anderen an. Ich fixierte diese weißen und schmalen Füße, die sich auf dem Bettlaken hin und her bewegten.
    Quietschquietsch.
    »Mama, hör mir mal bitte zu, ich rede mit dir.«
    Quietschquietschquieeeetsch.
    Es bestand nicht der geringste Zweifel. Das Quietschen der Federn klang genauso wie zwei Schildkröten, die sich paaren. Auch wenn du versuchst, das Männchen mit einem Besen herunterzuschubsen, macht es weiter, und sie sehen dich nicht einmal.
    Ich rannte hinunter.
    Ich reanimierte meinen Computer aus seinem Standby-Modus, der mindestens acht Tage angedauert hatte.
    Ich gab »Lily Leeds« in die Suchmaschine ein.
    Es erschienen zehntausend Einträge von irgendwelchen Lilys aus Facebook.
    Die Suchmaschine fragte mich, ob ich Fotos sehen wolle.
    Ich klickte »ja«.
    Es kam ein wildes Sammelsurium von irgendwelchen Mädchen und Frauen, die sich wie hysterisch auf meinem unschuldigen Bildschirm verteilten. Mir taten die Augen weh.
    Vielleicht gab es ja was auf der Homepage der Universität! Ich schrieb »Lily Studentin Chinesisch Universität Leeds«.
    Es erschien der Link zu einem Restaurant in Peking, in dem nur Penisse auf der Speisekarte standen. Der Rezensent schrieb, Spezialität des Lokals sei ein Extrakt aus Hirschpenis.
    Ich musste unbedingt mit Wen sprechen. Ich begann ihm eine Mail zu schreiben, wobei ich meine Worte mit Ruhe und

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