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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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Bedacht wählte.
    An diesem Punkt musste ich ihm alles gestehen.
    Ich schrieb: »Lieber Wen ☺ Wenn ich mit dir zusammen bin, geht es mir nicht gut, und ich finde weder auf Englisch noch auf Chinesisch die Worte, deshalb schreibe ich dir jetzt auch eine Mail ☹ .«
    Dann begann ich ihm alles von Anfang an zu erzählen, von dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit Jimmy geschlafen hatte, bis heute, wo er mir den Laufpass gegeben hatte, und dabei liefen mir die Tränen nur so übers Gesicht, und dann fragte ich ihn nach Lily, schrieb, dass ich nichts von der Sache wüsste, dass ich aber für immer mit ihm zusammen sein wolle, ganz egal, zu welchem Preis, und wenn er mir gesagt hätte, dass er am Ende seine Freundinnen umbrachte wie König Blaubart, sei das auch recht, und wenn ich dafür nur einmal seinen Körper lieben dürfe, sei es mir recht, hinterher zu sterben, denn dann hätte ich wenigstens etwas, an das ich mich erinnern könne, etwas, das ich gerne im Kopf behielte, mitten unter all den anderen Erinnerungen, die ich nicht wollte, nur eine einzige. »Aber sag mir bitte, was mit Lily geschehen ist«, fuhr ich fort.
    Mich überraschte die unendliche Zuckrigkeit dessen, was ich geschrieben hatte, aber am Ende war auch das in Ordnung. Zumindest im Film funktioniert diese sentimentale Bulimie großartig.
    Als ich kurz den Blick auf den Bildschirm hob, blieb mir vor Schreck die Luft weg.
    Fast alle Wörter hatten sich in kecke gelbe Smiley-Gesichter verwandelt, mit doofem Grinsen und zusammengekniffenen Augen, mit Händen, die klatschten, und Mundwinkeln, die sich nach unten zogen.
    Ich versuchte alles zu korrigieren, schaffte es aber nicht mal, einen Apostroph einzutippen, bevor er zur Träne wurde. Die beiden Punkte wurden zu Augen, die Os zu Mündern, die Gedankenstriche zu kleinen Nasen. Eine Epidemie aus schwachsinnigem Grinsen und Pappkarton-Fratzen.
    Ich löschte alles. Eins nach dem anderen krepierten die Smileys, zusammen mit den verbalen Überresten meiner armseligen Liebeserklärung. Ich schrieb noch einmal »Lieber Wen«, dann die beiden Punkte und die Endklammer. Im selben Moment fraß das traurige Gesichtchen die beiden Punkte und die Klammer. Scheiß drauf. Ich schrieb ihm nur: »Ich muss dir etwas gestehen. Seit drei Monaten bumse ich mit deinem verblödeten Bruder, und es ist: phantastisch.«
    Doch ich hatte einen Zwischenraum vergessen, und zwischen »ist« und »hantastisch« war auf der Stelle ein Smiley erschienen, der die Zunge herausstreckte.
    Ich klappte den Laptop mit einem lauten Knall zusammen. Als ich dabei ein Klicken hörte, machte ich ihn noch einmal auf und stellte fest, dass zwei Tasten, nämlich das Q und das K, herausgefallen waren.
    Ihre sterblichen Hüllen aus Plastik lagen, aus ihrer Vertiefung gefallen, auf der Tastatur. Ich hob das Q in die Höhe. Darunter war, wie ein Vermächtnis an mich, ein kleines Bullauge versteckt. In dem Bullauge befand sich ein kleiner Vulkan aus Gummi. Ich hob ihn mit den Fingernägeln an. Zurück blieb das nackte und bloße Bullauge, mit einem Stahlring in der Mitte.
    Ich drückte drauf, um festzustellen, ob es genauso funktionierte wie das Q darüber.
    Ja.
    In Wirklichkeit sind die kleinen, sympathischen Buchstaben nur nutzlose Verkleidungen für all diejenigen Menschen, die nichts mit Bullaugen zu schaffen haben wollen.
    Ich hob auch das K hoch. Die anderen Tasten waren viel schwieriger herauszuheben, man brauchte den Fingernagel und manchmal sogar einen Hammer dafür, zum Beispiel war das so mit der Löschtaste, die überhaupt nicht raus wollte und bei der ich drei Mal mit dem Hammer draufhauen musste.
    Die willigsten Märtyrer war die Schwadron von F’s in der oberen Reihe. Bis zum sechsten genügte ein einziger Schlag auf die Tastatur, beim siebten musste ich noch die Fingernägel zu Hilfe nehmen, dann folgten ihnen F8 und F9 ehrenvoll ins Grab.
    Meine allergrößte Eroberung war jedoch die tyrannische Feststelltaste, diese Wundermedizin, die Alice im Wunderland in einen Riesen verwandelt. Das ist die demokratischste Taste, nichts im Vergleich zu ihrem Gegenspieler, der nur einen einzigen Buchstaben zur Majuskel macht.
    Gut, weg mit ihr, und sie ruhe in Frieden. Ich schrieb FRIEDEN und entbeinte dann auch diese fünf Buchstaben.
    Nach einer Stunde war die Tastatur endlich zu einer Nekropolis aus Lettern und Zeichen geworden. Keine wild gewordenen Pfeile und angeberischen Sternchen mehr, und auch keine alphabetischen Zutaten, aus denen zuerst

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