Sieg des Herzens
anderen biegen jetzt um die Kurve«, zischte Henley. »Töten Sie ihn!«
»Was?« entgegnete Julian erschrocken.
»Wir brauchen Sie dabei. Die sind uns zahlenmäßig überlegen. Das wissen Sie doch. Wir haben Krieg, Julian, töten Sie den Waschlappen, sonst gefährdet er die ganze Aktion.«
Julian starrte auf den Jungen, der unter ihm am Boden lag und ihn mit schreckgeweiteten Augen ansah. Ihn töten? Das sagte sich so leicht und war eigentlich auch leicht getan. Er brauchte nur sein Messer zu nehmen und es ihm ins Herz zu rammen. Er wußte, wie man den Tod schnell herbeiführte. Aber trotzdem konnte er den Jungen nicht töten. Wenn er es doch tat, würde seine ganze Lebensphilosophie ad absurdum geführt: Alles, wofür er bisher eingetreten war, käme dann einer Lüge gleich.
Es war eine Sache, sich mit dem Gewehr zu verteidigen, wenn man verfolgt wurde - was ihm in der Miliz von Florida häufig genug passiert war; man hatte auf ihn geschossen, und er hatte das Feuer erwidert. Aber das hier wäre Mord.
Der junge Yankee unter ihm war jetzt starr vor Angst und sah ihn immer noch ganz verzweifelt an.
»McKenzie, blasen Sie ihm endlich das Licht aus!« hörte Julian wieder Henley hinter sich.
Wenn er den Jungen tötete, hatte er nicht einmal den Hauch einer Chance, aus diesem Krieg einigermaßen integer hervorzugehen.
»Julian, sie kommen...«
»Es tut mir leid, mein Junge«, sagte Julian schließlich bedauernd zu dem Unionssoldaten.
Rhiannon hatte alles versucht, was in ihrer Macht stand, um Sydney aus dem Gefängnis zu bekommen.
Von General Magee hatte sie eine Mitteilung erreicht, daß er sein möglichstes tun wolle. Aber natürlich müßte er dazu den Dienstweg einhalten und die zuständigen Behörden konsultieren, und das würde Zeit brauchen. Sie hatte an Granger appelliert und außerdem versucht, herauszufinden, wo sich Ian McKenzie aufhielt, aber der war irgendwo an der Front. Bis man ihn gefunden hatte, würde auch eine Menge Zeit vergehen. Schließlich hatte ihr Granger von Jesse Halston erzählt, der sich immer noch in der Stadt aufhielt und wohl auch noch eine weitere Woche dasein würde. Nachdem er wieder einmal verwundet worden war, hatte ihn seine Kompanie zurück in die Hauptstadt geschickt, wo er mit den Leuten vom Geheimdienst Zusammenarbeiten sollte, um dafür zu sorgen, daß Militärgeheimnisse auch geheim blieben.
Rhiannon hatte erfahren, daß Jesse Halston damals von Jeromes Vorbereitungen zur Flucht Wind bekommen hatte und wohl auch derjenige gewesen war, der dafür gesorgt hatte, daß man Sydney überführt und gefangengenommen hatte. Da ihr kaum etwas anderes übrigblieb, schickte Rhiannon ihm eine Notiz, in der sie ihm ihren Namen nannte und daß sie ihn dringend sprechen müsse. Als Antwort darauf sprach ein junger Soldat bei ihr vor, der sie einlud, mit ihm zu Halstons Büro zu kommen, das noch hinter dem Weißen Haus lag.
Als sie dort ankamen, war es schon fast dunkel. Jesse Halston war ein gutaussehender junger Mann mit vertrauenerweckenden, haselnußbraunen Augen und einem gewinnenden Lächeln.
»Sir, ich brauche Ihre Hilfe«, begann Rhiannon ohne Umschweife.
»Kein Problem, Mrs. Tremaine, ich helfe Ihnen gern, wenn es in meiner Macht steht«, entgegnete er freundlich. »Worum geht es denn?«
»Um Sydney McKenzie. Sie haben dafür gesorgt, daß man sie verhaftet hat, vielleicht könnten Sie sie auch wieder befreien.«
»Ma'am, wenn mir daran gelegen wäre, sie frei zu sehen, warum hätte ich sie dann überhaupt gefangennehmen lassen sollen?« fragte er. Sein Blick war nicht mehr so offen wie am Anfang. »Und wieso sind Sie überhaupt an ihrer Freilassung interessiert?«
»Sie ist eine McKenzie, und ich bin mit der Familie gut bekannt«, entgegnete Rhiannon.
Halston lehnte sich an seinen Schreibtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte dann entschieden: »Man kann ihr nicht trauen.«
»Ich denke schon. Sie könnte schwören, daß sie keine Probleme mehr macht. Ich weiß, daß man schon Leute freigelassen hat, nachdem sie eine entsprechende Erklärung unterzeichnet ha ...«
»Glauben Sie wirklich, Mrs. Tremaine, daß Sydney McKenzie einen Treueid gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika leisten würde?«
Rhiannon senkte den Blick und strich etwas verlegen eine Falte ihres Rockes glatt, bevor sie ihm antwortete: »Um ehrlich zu sein, nein. Aber ich glaube, daß sie schwören wird, daß sie Washington verläßt und ihre Spionagetätigkeit
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