Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
erwartet, dass Stefan noch Einwände gegen diese Instrumentalisierung von ihm und seiner Menagerie erheben würde, wenn er erfuhr, dass sie es nur getan hatte, um sich selbst zu schützen. Er war schließlich ihr loyaler Krieger. Doch sie hatte offenbar unterschätzt, wie schwer es Stefan fiel, ihren Verrat zu verarbeiten. So wie es aussah, erholte er sich nicht besonders gut davon.
»Du verschwindest besser wieder, Mercy«, erklärte mir Rachel ausdruckslos. »Es ist nicht sicher.«
Ich stemmte eine Hand gegen die Tür, bevor sie sie wieder schließen konnte. »Ist Stefan da?«
Sie keuchte ein wenig. »Er wird nicht helfen. Das tut er nicht.«
Wenigstens klang das nicht so, als wäre Stefan die Gefahr, vor der sie mich gewarnt hatte. Sie hatte den Kopf gedreht, als ich die Tür gestoppt hatte, und ich sah, dass jemand an ihrem Hals gekaut hatte. Menschliche Zähne, so wie es aussah, keine Reißzähne, aber die Krusten verliefen an den Sehnen zwischen ihrem Schlüsselbein und ihrem Kinn entlang und sahen furchtbar aus.
Ich rammte die Tür auf und trat weit genug vor, um den Schorf zu berühren. Rachel wich zurück, sowohl vor der Tür als auch vor mir.
»Wer hat das getan?«, fragte ich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Stefan zuließ, dass sie wieder jemand verletzte. »Einer von Marsilias Vampiren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ford.«
Für einen Moment hatte ich keine Ahnung, von wem sie sprach. Dann erinnerte ich mich an den großen Mann, der mich das letzte Mal, als ich Stefans Haus betreten hatte, rausgeworfen hatte. Er war halb in einen Vampir verwandelt
und überwiegend verrückt – und war schon so gewesen, bevor Marsilia ihn in die Finger bekommen hatte. Ein wirklich scheußlicher, furchterregender Kerl – und ich ging davon aus, dass er schon beängstigend gewesen war, bevor er überhaupt jemals einen Vampir gesehen hatte.
»Wo ist Stefan?«
Ich habe keinen Nerv für Dramen, die damit enden, dass Leute verletzt werden. Es war Stefans Aufgabe, sich um seine Leute zu kümmern, auch wenn die meisten Vampire ihre Menagerie nur als praktischen Snack sahen und viele der Menschen langsam und scheußlich über einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten hinweg starben.
Stefan war anders gewesen. Ich wusste, dass Naomi, die Frau, die ihm den Haushalt führte, seit dreißig Jahren oder mehr bei ihm war. Stefan war vorsichtig. Er hatte versucht zu beweisen, dass Leben möglich war ohne zu töten. So wie Rachel jetzt aussah, bemühte er sich nicht mehr allzu sehr.
»Du kannst nicht reinkommen«, sagte sie. »Du musst gehen. Wir sollen ihn nicht stören, und Ford…«
Der Boden im Flur war dreckig und meine Nase witterte verschwitzte Körper, Schimmel und den sauren Geruch alter Angst. Das gesamte Haus stank für meine empfindliche Kojotennase wie eine Mülldeponie. Für den normalen menschlichen Geruchssinn roch es wahrscheinlich genauso.
»Und wie ich ihn stören werde«, erklärte ich ihr grimmig. Irgendjemand musste es offensichtlich tun. »Wo ist er?«
Als klar wurde, dass sie mir nicht antworten konnte oder wollte, ging ich tiefer ins Haus und schrie seinen Namen,
wobei ich den Kopf in den Nacken legte, damit der Schall auch über die Treppe nach oben drang. »Stefan! Schaff deinen Hintern hier runter. Ich habe ein oder zwei Hühnchen mit dir zu rupfen. Stefan! Du hattest jetzt genug Zeit, um dich in Selbstmitleid zu suhlen. Entweder du bringst Marsilia um – und dabei werde ich dir helfen – oder du kommst drüber weg.«
Rachel hatte angefangen, an meiner Kleidung zu zupfen, um mich wieder aus dem Haus zu ziehen. »Er kann nicht nach draußen«, sagte sie drängend. »Stefan zwingt ihn dazu, drinnen zu bleiben. Mercy, du musst wieder rausgehen.«
Ich bin zäh und stark und sie zitterte vor Müdigkeit und, wahrscheinlich, Eisenmangel. Ich hatte keinerlei Problem damit, dort stehen zu bleiben.
»Stefan!«, brüllte ich wieder.
Dann passierten sehr schnell eine Menge Dinge, so dass ich später darüber nachdenken musste, um sie in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Rachel sog die Luft ein und erstarrte, während sie plötzlich meinen Arm umklammerte, statt an mir zu ziehen. Aber sie verlor den Halt, als jemand mich von hinten packte und mich auf das Klavier warf, das an einer Wand zwischen Flur und Wohnzimmer stand. Es machte so einen Lärm, dass das Geräusch meines Aufpralls und der Schmerz in meinem Rücken sich zu einer einzigen Empfindung verbanden. Die Übung unzähliger
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