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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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versuche, deinen Gedanken zu folgen. Aber trotzdem verstehe ich es nicht. Irgendwo in einem österreichischen Dorf … wo wurde er geboren?« »In Braunau.«
    »In Braunau kriecht Hitler senior auf seine Frau und kommt stöhnend vor Lust zum Orgasmus.« »Ja«, sagte Herter. »Das muß man sich mal vorstellen. Das alles hat einmal mit Lust angefangen.«
    »Und in diesem Moment geht in Nietzsches Hirn irgendwas schief, Hunderte von Kilometern entfernt in Turin.«
    »Genau. Die Nacht, in die Nietzsches Geist stürzte, war die Finsternis der Gebärmutter, in der Hitlers Körper Gestalt annahm.«
    »Aber eine befruchtete Eizelle in Braunau kann doch dafür unmöglich die Ursache sein. Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, daß du an eine geheimnisvolle Strahlung oder so etwas glaubst.« »Natürlich nicht. Es gibt noch ein Drittes, das sowohl das eine wie das andere verursacht hat.«
    »Und das ist?« Herter schloß kurz die Augen.
    »Nichts eben. Das ist ja gerade das Wunder. Nach dem Tod Gottes stand das Nichts vor der Tür, und Hitler war sein eingeborener Sohn. In gewisser Weise hat er nie existiert, er war gleichsam die fleischgewordene Hitler-Lüge. Der absolute, logische Antichrist.«
    »Nur gut, daß außer mir niemand hören kann, was du da alles sagst. Wenn du mich fragst, versteht kein Mensch auf der Welt, was du meinst.« »Das wäre möglicherweise der Beweis dafür, daß ich auf dem richtigen Weg bin. Man muß über Hitler ebenso schonungslos zu denken wagen, wie er gehandelt hat. Das habe ich von Nietzsche gelernt: Er war auf dieselbe Weise vor Hitler, wie ich nach ihm bin.« Ein merkwürdiges, kurzes Lachen, vor dem Maria ein wenig erschrak, kam aus seinem Mund. »Wir beide haben ihn jetzt in der Zange. Er ist vollständig umzingelt.«
    »Und warum wählte dein Nichts in dem bestimmten Augenblick ausgerechnet diese Familie in Braunau?« Herter wandte sich kurz ab und seufzte.
    »Warum wählte das Sein in dem bestimmten Augenblick zu Beginn unserer Zeitrechnung gerade diese Familie in Nazareth? Hitler war ebenfalls viel mehr ein Religionsstifter als ein Politiker, er sagte, die Vorsehung habe ihn gesandt, und die Deutschen glaubten an ihn, die ganzen nächtlichen Massenrituale mit Fackeln und Flaggen hatten religiösen Charakter, das bestätigen alle, die dabei waren. Weiß der Teufel, vielleicht wurde Klara Hitler nicht von ihrem Alois befruchtet, sondern vom Heiligen Ungeist.«
    »Offensichtlich hat Hitler dich auch zum Glauben geführt.« »Ja, zum Glauben ans Nichts, und Nietzsche ist sein Prophet. Und auf die Gefahr hin, daß du mich endgültig für geisteskrank hältst, werde ich dir noch etwas sagen. In der Vernichtung seines Geistes manifestiert sich nicht nur Hitlers körperliche Entstehung, er hat in seinen Schriften nicht nur dessen späteres Gedankengut angekündigt, sondern Nietzsche hat auch Hitlers Ende bis in alle Einzelheiten vorhergesagt. In einer seiner letzten Notizen, die den Titel Letzte Erwägung trägt , sagt er wörtlich: ›Man möge mir diesen jungen Verbrecher ausliefern; ich werde nicht zögern, ihn zu verderben – ich will selbst die Brandfackel in seinem fluchwürdigen VerbrecherGeist lodern machen.‹ Er meinte damit den deutschen Kaiser. Der starb 1941 friedlich in Doorn, aber vier Jahre später widerfuhr dies seinem Nachfolger am eigenen Leib. Im Bunker unter der Reichskanzlei schoß er sich in die rechte Schläfe, Eva Braun vergiftete sich, und anschließend wurden ihre Leichen nach oben in den Garten getragen; den Leichnam von Eva Braun trug Bormann. Dort draußen war die Hölle los, Bombardements und Artilleriefeuer, das Heulen der Stalinorgeln, Maschinengewehrrattern, Rauch, Gestank, die Schreie der Verwundeten, die Russen standen nur noch wenige Häuserblocks entfernt, und rundum brannte die Stadt wie Walhall in der Götterdämmerung. Di e Leichname wurden in der Nähe des Eingangs in einen Granattrichter gelegt und rasch mit Benzin übergossen. Weil niemand es wagte, in dem Feuerkreis noch einmal nach vorne zu gehen, warf ein Adjutant einen brennenden Lappen auf die leblosen Körper – und ein Polizist, der die Szene aus der Ferne beobachtete, erklärte später, daß es so aussah, als loderten die Flammen von selbst aus den Leichen. Von selbst! Da war sie also, Nietzsches Brandfackel!«
    Plötzlich ließ Herter, ohne das Diktaphon auszuschalten, seine Hand erschöpft neben sich herabsinken.
    »Ich kann meine Augen nicht mehr aufhalten.«
    »Das kann ich mir

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