Siegfried
betrügerische Schwester das Material geordnet und unter dem Titel De r Wille zur Macht veröffentlicht; in dieser Fassung hat es eine unglaubliche Wirkung gehabt. Aus diesem Buch spricht eher ein Prophet denn ein Philosoph: Einen ›Wahrsagevogelgeist‹ nennt er sich selbst. Er behauptete, die Geschichte der kommenden zweihundert Jahre zu beschreiben; die Hälfte ist jetzt rum, und im ersten Viertel war alles so, wie er es vorhergesagt hat, nur daß es schneller ging, als er dachte. Oder vielleicht sollten wir sagen, daß auch das einundzwanzigste Jahrhundert noch im Zeichen Hitlers stehen wird. Die korrupte Ausgabe von Elisabeth FörsterNietzsche beginnt mit dem berühmten Satz: ›Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?‹ Ist das nicht merkwürdig? Hier erscheint der Nihilismus als ein Gast, als eine Person. Das hat man immer als Stilfigur interpretiert, doch ich lese es jetzt anders. Der Begriff ›Nihilismus‹ ist von ›nihil‹, nichts, abgeleitet – und in diesem Satz wird kurz und bündig gesagt: ›Hitler steht vor der Tür.‹«
»Weißt du, was ich glaube, Rudi …«, sagte Maria, »daß du dabei bist, dir etwas anzutun.«
»Das hat Nietzsche vermutlich auch hin und wieder zu hören bekommen.«
»Und weil er nicht darauf gehört hat, hat es ein böses Ende mit ihm genommen.«
»Genau. Und ich werde dir jetzt erklären, wie es möglich war, daß dies das Werk Hitlers ist. Wir befinden uns im Sommer 1888. Plötzlich schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, Nietzsche legt seine Notizen zum Wille n zur Macht beiseit e und schreibt während der folgenden Monate im Eiltempo eine Reihe von Aufsätzen, aus denen die Zerstörung seines Geistes immer deutlicher herauszulesen ist. Wagner, der Oberantisemit, bekommt noch einmal eine volle Breitseite, er schreibt Sätze wie: ›Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen‹, und in seiner autobiographischen Skizze Ecce homo sagt er, alle Großen der Weltliteratur zusammen hätten nicht eine einzige Rede seines Zarathustra schreiben können. Er hält sich für den Nachfolger des verstorbenen Gottes und möchte eine neue Zeitrechnung einführen, alles wird immer größenwahnsinniger, er unterschreibt seine Briefe mit ›Dionysos‹, ›der Gekreuzigte‹, ›Antichrist‹, und in seinen letzten nachgelassenen Notizen vom Januar
1889 erklärt er sich bereit, die Welt zu regieren. Dann senkt sich endgültig die Nacht über seinen Geist. Als er in Turin an einem Droschkenstand vorübergeht, einer wie hier gegenüber, sieht er, wie einer dieser Droschkenkutscher sein altes Pferd mit einer Peitsche mißhandelt. Er rennt hin, er, der große Verächter des Mitleids, und fällt dem Tier weinend um den Hals …«
Einen Moment lang konnte Herter nicht weiterreden, er fühlte, wie sich seine Augen wieder mit Tränen füllten. Maria stand auf, schaute zu den Fiakern auf dem Platz hinüber und setzte sich dann zu ihm aufs Bett. Schweigend legte sie eine Hand auf seinen Arm. Er räusperte sich und sagte: »Der Direktor des psychiatrischen Krankenhauses, in das er eingeliefert wurde, hieß Dr. Wille.« »Was für ein Zufall.«
»Ja, was für ein Zufall. Und es passieren noch mehr Zufälle. Seiner Meinung und der aller späteren Ärzte zufolge litt der Patient an einer progressiven postsyphilitischen Paralyse.« »Aber?« fragte Maria.
Er sah sie an. Seine Hand, die das Diktaphon hielt, zitterte ein wenig.
»Weißt du, wann Hitler geboren wurde?« »Natürlich nicht.«
»Am 20. April 1889.« Er setzte sich aufrecht hin. »Weißt du, was das bedeutet?« Und als sie fragend die Augenbrauen hob: »Daß er im Juli 1888 gezeugt wurde – genau in dem Moment, als Nietzsches Verfall begann. Und als er neun Monate später geboren wurde, da gab es keinen Friedrich Nietzsche mehr. Das Hirn, das all diese Gedanken gedacht hatte, wurde während der Monate vernichtet, in denen der Fötus ihrer Personifikation, nein, ihrer Depersonifikation, heranwuchs. Das ist mein ontologischer Nichtsbeweis.« Marias Mund öffnete sich ein wenig.
»Rudi, du bist doch nicht etwa so verrückt, zu …«
»Doch, so verrückt bin ich. Der Grund seiner Vernichtung war nicht Paralysis progressiva, sondern Adolf Hitler.«
Sprachlos starrte Maria ihn an.
»Jetzt fange ich langsam an, auch an deinem Verstand zu zweifeln. Das ist doch alles nur ein dummer Zufall.«
»So? Und wann hört der Zufall auf, Zufall zu sein? Wenn jemand hundertmal hintereinander eine
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