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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Sechs würfelt, ist das dann auch immer noch Zufall? Genaugenommen ja, denn keiner der einzelnen Würfe steht in irgendeinem Zusammenhang mit dem vorhergehenden, und doch ist es noch nie vorgekommen. Du kannst ruhig deinen Kopf darauf verwetten, daß in einem solchen Falle etwas mit dem Würfel nicht stimmt. Schau's dir an. Auf der einen Seite haben wir Nietzsche, der prophetisch über all das schreibt, was ich erwähnt habe; auf der anderen Seite haben wir Hitler, der seine Vorhersagen Wirklichkeit werden läßt. Ein paar Tage vor seinem endgültigen Zusammenbruch – als der ungeborene Hitler sechs Monate alt war – schrieb Nietzsche wortwörtlich, er kenne sein Los: daß sich einmal an seinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen werde, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gegeben habe, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gege n Alles , was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden sei. Keiner konnte damals verstehen, wovon er sprach aber wir wissen es heute. Es war Hitler, der die vorhergesagte ›ungeheure Entscheidung‹ traf. Es war seine zentrale Obsession, wie sich herausstellte: die E ndlösung der Judenfrage – die physische Vernichtung der Juden, mit der Wagner ihnen als erster gedroht hatte und weswegen Nietzsche ihn so verachtet hatte. Von einem Jugendfreund wissen wir übrigens, daß der zukünftige Völkermörder Wagners antisemitische Schriften Buchstabe für Buchstabe gelesen hat. Auch Nietzsche hat er als junger Mann gelesen, doch darüber wollte der nicht zum Schweigen zu bringende Schwätzer mit seinem Freund bezeichnenderweise nicht reden; natürlich weil es ihn zu sehr betraf. Im übrigen hatte er es nicht so mit Philosophie und Literatur, seine Leidenschaft waren die Architektur und das Musiktheater, vor allem die Werke Wagners, und auch dort interessierten ihn wiederum vor allem die Kulissen und die Inszenierung. Auf andere Weise war nur Nietzsche ebenso besessen von Wagner wie er. Darüber hinaus hatte auch er sich vorgenommen, die Welt zu regieren, auch er spielte mit dem Gedanken, eine neue Zeitrechnung einzuführen, und so weiter und so weiter – ich könnte so noch eine ganze Weile fortfahren. In Hitler wurden Nietzsches Größenwahn und seine Ängste von A bis Z Wirklichkeit, das paßt alles wie eine Hand in einen Handschuh. Als er später einmal, da war er schon Reichskanzler, Nietzsches Schwester in Weimar besuchte, hatte er dort sogar eine Art mystisches Erlebnis: Es war, so berichtete er, als habe er ihren toten Bruder leibhaftig im Zimmer gesehen und ihn sprechen hören. Und jetzt soll diese exakte Parallelität von Hitlers Entstehung und Nietzsches Vergehen plötzlich ein Zufall sein? Ist es auch ein Zufall, daß beide gleich alt wurden, nämlich sechsundfünfzig? Ist es auch ein Zufall, daß Nietzsches Wahnsinn genausolang dauerte wie Hitlers Herrschaft: zwölf Jahre?« Ratlos hob Maria beide Arme.
    »Aber wie hängt das alles zusammen? Wie soll ich mir das alles vorstellen? Was soll ein Fötus im Bauch einer österreichischen Frau mit dem mentalen Zustand eines Mannes in Italien zu tun haben? Das ist doch mehr als verrückt!«
    »Das ist es auch, das ist es auch«, sagte Herter, heftig mit dem Kopf nickend, »und dennoch ist es so. Es liegt doch auf der Hand. Das ist ein groteskes Wunder. Er ist nie ein unschuldiger Säugling gewesen, schon als Fötus war er ein Mörder, und in gewisser Weise ist er immer dieses mordende Ungeborene geblieben.« Maria kreischte beinah:
    »Aber wie denn , Rudi? Um Himmels willen! Wie wurde mit dem Würfel getrickst? Man könnte fast meinen, du seiest wahnsinnig geworden. Was ist bloß heute nachmittag dort bei den alten Leuten passiert? Komm doch zur Besinnung!« »Genau das tue ich, genau das tue ich. Doch nicht, um das Ganze auf etwas Alltägliches, einen Zufall etwa, zu reduzieren und mich dann achselzuckend abzuwenden, sondern um weiterzukommen, denn hier handelt es sich nicht um etwas Alltägliches, verdammt. Ist dir überhaupt klar, worüber wir reden? Es geht hier um das Schlimmste des Schlimmen. Und das einzige, was ich mir ausdenken kann, ist, daß wir es bei Hitler mit einer Art Meta-Naturphänomen zu tun haben – vergleichbar mit dem Meteoriteneinschlag während der Kreidezeit, der die Dinosaurier aussterben ließ. Mit dem Unterschied, daß er kein außerirdisches Wesen war, sondern eines von außerhalb des Seins: das Nichts.« Maria zwang sich zur Ruhe.
    »Gut, ich

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