Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
Gestank, vernagelte Fenster, lange Menschenschlangen vor den Geschäften, noch längere Leichenschlangen auf den Bürgersteigen, hier und da ein aufgeknüpfter Deserteur an einem Laternenpfahl, alte Frauen, die in Kinderwagen geschoben werden, Menschen, die über die schwelenden Ruinen klettern und versuchen, Familienmitglieder oder Reste ihrer Habe zu finden. Diese prächtige Stadt! Das Ganze ähnelt eher einer Naturkatastrophe als Menschenwerk, aber vielleicht ist das letztendlich dasselbe. Das läßt sich auch in hundert Jahren nicht wieder aufbauen. In dem Chaos aus Feuerwehrwagen, Krankenwagen und ratlosen Menschen suchten wir unseren Weg zur Reichskanzlei, die ebenfalls schwer beschädigt ist.
    Im Garten, am düsteren Eingang zum Bunker, wurde ich von Schwager Fegelein empfangen, der mich über endlose schmiedeeiserne Wendeltreppen in das unterste Stockwerk brachte, mindestens fünfzig Stufen tief unter der Erde. Die Nachricht von Roosevelts Tod vor ein paar Tagen scheint allen hier in der Zitadelle wieder Hoffnung auf ein gutes Ende gegeben zu haben; aber ich spürte, daß meine Ankunft für sie den Beginn des definitiven Endes bedeutete – daß ich gekommen war, um zusammen mit dem Führer zu sterben. Aber nicht nur das. Bevor alles aus ist, muß und werde ich erfahren, was genau mit Siggi geschehen ist, und warum.
    Adi freute sich, als er mich sah, aber er befahl mir, sofort auf den Obersalzberg zurückzukehren. Als ich mich weigerte, schien er gerührt zu sein; er sah mich unverwandt an und beließ es dabei. In seinem Mundwinkel klebte Schokolade, die ich mit meinem Taschentuch wegwischte.

    17. IV. 45
    Habe ihn auch heute nicht unter vier Augen sprechen können. Während der letzten Monate ist er wieder um Jahre gealtert, sein Haar ist fast vollständig grau, er geht gebückt, die Augen in seinem blassen Gesicht sind erloschen, seine Stimme ist brüchig, sein linker Arm zittert, und er hinkt. Ich kann mir fast nicht vorstellen, daß dies derselbe Mann ist wie vor wenigen Jahren – aber all die Sorgen, das erträgt kein Mensch. Er hat sogar Fettflecken auf seiner Krawatte und seiner Uniform; das wäre früher undenkbar gewesen. Den ganzen Tag über konferiert er in seinem Zimmer nebenan mit den Generälen, jedenfalls wenn Dr. Morell nicht gerade damit beschäftigt ist, ihn mit Spritzen und Pillen vollzupumpen. Als ich ankam, begann zur gleichen Zeit eine große russische Offensive – als wenn ich es geahnt hätte. Die Bombardements scheinen vorüber zu sein; Goebbels sagt, daß die Engländer und Amerikaner es jetzt offenbar den Russen überlassen, die Arbeit zu Ende zu bringen: Sie selbst sind Richtung Süden abgeschwenkt, Richtung Obersalzberg; die Alliierten reden die ganze Zeit von der »Alpenfestung«. Offenbar denken sie, daß sich dort ein riesiges Heer aus Zehntausenden von fanatischen Nationalsozialisten verborgen hält, aber das ist Unsinn, es gibt dort nur ein Wachbataillon. Währenddessen stürmen Hunderttausende Iwans auf uns los, wie ein Lavastrom aus dem Vesuv. Danach wird von Berlin nicht mehr übrig sein als von Pompeji.
    Was in meinen Zimmern in der Reichskanzlei noch brauchbar war, habe ich nach unten bringen lassen, und ich habe meine drei kleinen Kammern so gemütlich wie möglich gemacht, auch für Stasi und Negus, was gar nicht so einfach war zwischen all dem Beton und ohne Tageslicht; aber das ist nicht so wichtig, lang kann es eh nicht mehr dauern. Ich bin sehr glücklich, in der Nähe meines armen Adi sein zu dürfen. Alle, Göring, Himmler, Ribbentrop, alle – außer Goebbels – versuchen ihn zu überreden, Berlin zu verlassen, solange das noch möglich ist, und vom Obersalzberg aus den Kampf fortzusetzen, oder notfalls in den Nahen Osten zu fliehen; aber da kennen sie ihn schlecht. Was ihn angeht, kann jeder gehen, doch er bleibt. Er ist immer noch der einzige, der standfest bleibt und an seinen Platz in der Geschichte denkt. Am Nachmittag mit Speer zum letzten Konzert der Berliner Philharmoniker. Ich hatte meinen Silberfuchsmantel an, wohl zum letzten Mal. Weit entfernt im Osten war bereits das leise Dröhnen der sich nähernden Front zu hören. Im Auto sagte er, er habe Beethovens Egmont-Ouvertüre, die zu Beginn gespielt werden sollte, durch das Finale von Wagners Götterdämmerung mit dem brennenden Walhall, in dem die Götter den Tod finden, ersetzen lassen. Speer erzählte auch, er habe die Unterlagen der Musiker aus dem Rekrutierungsbüro des Volkssturms verschwinden

Weitere Kostenlose Bücher