Siegfried
sagte er plötzlich tonlos, mit tieferer Stimme. »Was sagst du?« fragte Maria, wobei sie den Kopf wieder ein wenig schräg hielt.
»Ach, nichts. Da möchte ich nur später noch etwas einfügen.«
Irgendwann einmal hatte er eine verblüffende Entdeckung gemacht. In der Passage, in der Schopenhauer von der Übersetzung der Musik in die wahre Philosophie spricht, sagt er wörtlich: »… daß gesetzt es gelänge eine vollkommen richtige, vollständige und ins Einzelne gehende Erklärung der Musik, also eine ausführliche Wiederholung dessen was sie ausdrückt in Begriffen zu geben, diese sofort auch eine genügende Wiederholung und Erklärung der Welt in Begriffen, oder einer solchen ganz gleichlautend, also die wahre Philosophie sein würde …« Zig Jahre später taucht die komplizierte Melodie dieses Satzes bei Nietzsche wieder auf: »Gesetz t endlich, dass es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist – ; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht.« Sowei t Herter wußte, war die chromatische Ähnlichkeit dieser beiden entscheidenden Sätze bisher niemandem aufgefallen. War sie Nietzsche selbst aufgefallen? War sie eine verborgene Hommage an Schopenhauer? Vermutlich handelte es sich eher um eine unbewußte Reminiszenz seiner Schopenhauerlektüre. – Das »Unterbewußte« … der letzte Sproß dieses finsteren Stammbaums, den Freud dann entdeckte.
»Hast du die Nase noch nicht voll von meinem Vortrag?«
»Als wenn dir das etwas ausmachen würde!«
»Das stimmt. Als der Gedanke vom Willen zur Macht in ihm aufkam«, fuhr Herter fort, »da hatte Nietzsche in seinem Buch Als o sprach Zarathustra bereits einige andere erschreckende Dinge aufs Programm gesetzt, zum Beispiel sein Konzept vom Übermenschen, die Herrschaft der Starken über die Schwachen, die Abschaffung des Mitleids und die These vom Tode Gottes. Ja, man muß sich nur trauen. Der todunglückliche Fritz litt unter seinem Mut; am liebsten wäre ihm gewesen, wenn jemand ihm die Unrichtigkeit seiner Gedanken bewiesen hätte.« Maria sah ihn scharf an und fragte:
»Sehe ich richtig, hast du wirklich Tränen in den Augen?«
Herter legte das Diktaphon beiseite und rieb sich die Augen.
»Ja, das siehst du richtig.«
»Warum nur? Ich dachte immer, seine Gedanken hätten Hitler inspiriert.«
»Das hast du falsch gedacht, und du bist nicht die einzige. Er war Hitlers erstes Opfer.« »Wenn ich mich nicht irre, dann war der damals noch nicht einmal geboren.«
»Das stimmt. Und damit berührst du auch gleich den Punkt, auf den ich hinauswill. Hör zu«, sagte er und nahm das Diktaphon wieder zur Hand, »ich werde versuchen, es zu erklären, auch mir selbst. Ich kann es selbst auch noch nicht glauben. Nietzsche ist Ende August 1900 gestorben: Das ist im nächsten Jahr genau hundert Jahre her. Damals war er schon seit Jahren vollkommen geisteskrank, am Ende mehr eine Pflanze als ein Mensch; anfangs pflegte ihn seine Mutter, später seine Schwester. Wie ging das vor sich, als sein Wahnsinn ausbrach? Paß auf, ich werde die Daten etwas genauer unter die Lupe nehmen. Mir ist nicht jedes Detail präsent, doch in groben Zügen weiß ich, was passierte – zu Hause werde ich das alles noch einmal genau recherchieren: darauf freue ich mich jetzt schon. Was gibt es Schöneres, als im Kielsog einer Idee sich dem Studium zu widmen? Lernen ohne eigene Idee konnte ich nie, schon in der Schule nicht. Gut. Als er seinen Zar athustra schrieb , in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, war er geistig noch völlig gesund. Auch in den folgenden Jahren publizierte er einige wichtige Bücher, in denen es keinerlei Anzeichen dafür gibt, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein könnte. Außerdem notierte er während dieser Periode mehr als tausend Aphorismen, aus denen das philosophische Gegenstück zum Zarathustra entstehen sollte, doch daraus wurde nichts mehr. Im Sommer des Jahres 1888, als er mit den vorbereitenden Arbeiten vermutlich fertig war, ging es schief; plötzlich veränderte sich etwas, als schöbe sich eine Wolke vor die Sonne. Nach seinem Tod hat seine ziemlich
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