Siegfried
vorstellen«, sagte Maria, sah auf die Uhr und stand auf. »Schlaf ein bißchen, du hast noch eine halbe Stunde Zeit. Der Wagen der Botschaft kommt in einer Stunde, ich geh runter und trinke eine Wiener Melange – um mich wieder zu erholen. Wenn du mich brauchst, ruf an.« Sie küßte ihn auf die geschlossenen Augen und verließ das Zimmer.
Herter hatte das Gefühl, als könne er hundert Jahre schlafen. Siegfried. Er dachte an das verzierte S, das Logo des Hotels, das sich tausendfach wiederholte: in den Teppichen auf den Fluren, auf den Papieruntersetzern der Gläser, auf den Streichholzschachteln, den Sockeln der BeistellLampen, den Zuckertütchen, den Notizblöcken neben den Telefonen, den Kugelschreibern, dem Geschirr, den Aschenbechern, den Bademänteln, den Slippern … Siegfried … Siegfried … Siegfried …
Inwieweit war Hitler eigentlich ein Mensch? Er besaß den Körper eines Menschen – obwohl … auch dieser Körper hatte von Anfang an etwas Merkwürdiges. Mit seiner Beschreibung des »Juden«, der angeblich die Weltherrschaft an sich reißen will, um die Menschheit zu vernichten, hatte er jedenfalls ein treffendes Selbstporträt geliefert. Herter dachte an einen Satz aus Mein Kampf , der sich in seine Erinnerung eingebrannt hatte: »Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.« Menschenleer! Mit anderen Worten: Die übrigbleibenden Juden auf diesem Planeten waren keine Menschen – ebensowenig wie er einer war. Nur war sein Totentanz noch um ein Grad schrecklicher, denn nirgendwo schreibt er, daß die siegreichen Untermenschen unter Leitung ihres verbal-mythischen Führers DER JUDE am Ende auch sich selbst ausrotten, so wie er es getan hat. Und der Grund dafür, daß er ausgerechnet die Juden in den Fokus seines eigenen nihilistischen, totalen Vernichtungswillens gegen alles Seiende, sich selbst nicht ausgenommen, stellte, war natürlich der, daß sie sein eigenes großes Ideal, nämlich das der »Reinheit der Rasse«, verwirklicht und seit Tausenden von Jahren zu bewahren verstanden hatten.
Er dachte an die Falks. Was sie ihm erzählt hatten, entsprach zweifellos der Wahrheit, doch wie konnte es wahr sein? Wie konnte Eva nach dem Befehl der Ermordung Siegfrieds noch Frau Hitler werden und mit ihrem Mann in den Tod gehen? Welchen Sinn hatte diese Eheschließung? Was steckte bloß dahinter, und was mochte anschließend noch alles passiert sein? Es war so, wie Falk gesagt hatte: Durch Nachdenken fand man keine Erklärung.
Plötzlich fiel ihm Marias Frage wieder ein: warum das Nichts ausgerechnet Braunau als Geburtsort Hitlers ausgewählt hatte. Das Braun kehrte später immer wieder: die Parteizentrale in München hieß »das Braune Haus«, die SA-Truppen wurden »Braunhemden« genannt und nicht zuletzt hieß auch Eva »Braun«. Weil ihre Verwandten häufig auf dem Obersalzberg übernachteten, nannte Göring den Berghof das »Braunhaus«. Braun kam im Sonnenspektrum nicht vor, es war die Kackfarbe, die entstand, wenn man auf einer Palette alle Spektralfarben durcheinanderschmierte – und bei diesem Gedanken erinnerte er sich an etwas, das alles schlüssig erklärte. In der Klinik notierte der diensthabende Arzt im Monat von Hitlers Geburt zu Nietzsche: »Koth geschmiert. – Beschmiert sich mit Koth. – Ißt Koth.«
Plötzlich spürt er, daß etwas Schreckliches ihn an der Kehle packt und ihn fortzerrt, in den Schlaf, durch den Schlaf hindurch, weiter als der Schlaf …
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16. IV. 45
Nach einer grauenhaften Reise gestern hier angekommen – nur um mich zu Tode zu langweilen, wie es aussieht. Zu lesen gibt es hier nichts, und um die Zeit totzuschlagen, habe ich mir Papier bringen lassen, und darauf mache ich jetzt diese Notizen.
Ganz Deutschland liegt in Trümmern. München, Nürnberg, Dresden … all die herrlichen Städte sehen aus wie glühende Schlacke, wenn sie aus dem Ofen kommt. Welchen Sinn hat das alles bloß? Ich hatte den Mercedes mit Tarnfarbe spritzen lassen, aber trotzdem mußten der Chauffeur und ich uns einmal Hals über Kopf in den Straßengraben flüchten, weil ein englisches Jagdflugzeug mit ratternden Maschinengewehren auf uns zuflog. Ich hatte nicht einmal Zeit, die Hündchen zu schnappen. Beim Anblick Berlins kommen einem die Tränen. Überall Ruinen, Feuer und
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