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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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hocke ich wieder fünfzehn Meter tief unter der Erde, und ich muß zugeben, daß ich mich hier jetzt wohler fühle als draußen. Ich fahre da fort, wo ich gestern aufgehört habe.
    Am Abend desselben Tages noch rief ich vom Berghof aus meine Eltern an und ließ mich trotz des Fliegeralarms nach München bringen. Dort ging mir dann ein Licht auf. Meine Eltern hatten Todesängste ausgestanden, als sie wochenlang nichts von mir hörten und es ihnen auch nicht gelang, Verbindung zur Wolfsschanze aufzunehmen. Einige Tage nach meinem Abtransport nach Bad Tölz kam ein Gestapo-Offizier zu ihnen und nahm meine Mutter mit in die Zentrale. Dort teilte man ihr mit, das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS habe herausgefunden, daß sie, Franziska Kronburger, eine jüdische Großmutter gehabt habe und folglich nicht 100 Prozent rassenrein sei. Das gehe aus den Archiven des Standesamtes in ihrem Geburtsort Geiselhörning in der Oberpfalz hervor.
    Meine Eltern waren erschüttert, doch ich konnte ihnen nicht sagen, was ich sofort dachte: daß es sich dabei natürlich um ein Komplott handelte, mit dem Ziel, mich, und damit auch Siggi, in Mißkredit zu bringen. Ich war folglich auch nicht rassenrein und Siggi ebenfalls nicht. Aber meine Eltern waren ja der Überzeugung, Siggi sei der Sohn von Ullrich und Julia Falk, der bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. In der Zwischenzeit stellte sich heraus, der Sohn des Führers hatte jüdisches Blut in den Adern! Jetzt war die Hölle los! Ich kenne ihn, ich weiß, in welch ein Rasen er nach dieser Nachricht ausgebrochen sein muß –
    (Als habe der Teufel seine Hand im Spiel: Plötzlich ging das Licht aus. Ich dachte, das Ende sei gekommen, die Finsternis war so total wie in einer Gebärmutter; den Stift in der Hand, blieb ich regungslos sitzen und lauschte dem Lärmen auf dem Flur und in Adis Zimmern nebenan; als Linge mit einer Taschenlampe und einem Bündel Kerzen zurückkam, ging das Licht wieder an.) Adolf Hitler der Vater eines jüdisch verseuchten Kindes! Das war das Allerschlimmste, was ihm passieren konnte, und er hat keine Sekunde gezögert. Auch Gretl und ihrem Fegelein drohte jetzt die Gefahr, in die Katastrophe hineingerissen zu werden. Die arme Gretl, sie war im dritten Monat schwanger – auch mit einem nicht-arischen Kind also. Aber stimmte das überhaupt? Mama stammt aus einer streng katholischen Familie vom Lande, und ich selbst war bei den Nonnen in einer Klosterschule; von Juden in der Familie wußten wir nichts. Verzweifelt versuchte mein Vater den Chef zu erreichen, aber das gelang ihm natürlich nicht. Zum Glück erinnerte er sich eines Tages daran, daß er bei ihrer Hochzeit beglaubigte Abschriften von seinen und Mamas Unterlagen hatte anfertigen lassen, für den Fall, daß er sie bei einer Bewerbung oder dergleichen einmal brauchte. Er fand sie auf dem Speicher in einem alten Schuhkarton, und damit war die Fälschung klar bewiesen.
    Dahinter konnte nur die Gestapo stecken. Aber wer war der Auftraggeber? Und warum? Wer mußte sich vor diesem kleinen Kind fürchten? Was mich aber über die Maßen unglücklich macht, ist, daß Adi fähig war, die Exekution seines Sohnes, an dem er so hing, zu befehlen. Wie konnte er das bloß tun? Ich liebe ihn, aber ich begreife ihn nicht. Ob er sich selbst versteht? Ob er je über sich nachdenkt?

    20. IV. 45
    Adi hat Geburtstag: sechsundfünfzig. Wer es nicht weiß, würde eher sagen: siebzig. Endlich kurz unter vier Augen mit ihm gesprochen.
    Um elf Uhr stand er auf, und etwas später kamen alle, um ihm zu gratulieren, Bormann, Göring, Goebbels, Himmler, Ribbentrop, Speer, Keitel, Jodl, der ganze Verein. Sie kamen durch die Tunnel aus den Bunkern unter ihren eigenen Ministerien und Hauptquartieren, und das war kein übertriebener Luxus, denn die Amerikaner waren doch wieder mit einer Flotte von tausend Fliegenden Festungen erschienen und ließen stundenlang Bomben auf die arme Stadt herabregnen. Obwohl über uns zwei Meter Erde und fünf Meter Beton sind und wir uns im untersten Stockwerk befinden, dröhnte und krachte es ununterbrochen über unseren Köpfen, der Bunker wackelte, hier und da bröckelte Kalk herab. Goebbels meinte, das sei bestimmt als Geburtstagsgeschenk gedacht; später am Tag gab es noch weitere Geschenke von englischen Bombenflugzeugen und außerdem Beschuß durch die Russen, deren Artillerie jetzt auch die Stadtmitte erreicht. Ich kann es nicht leugnen, es erfüllt mich ein wenig mit Stolz, wenn ich

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