Siegfried
Probleme hochbegabter Kinder zu lesen, das sie aus Amsterdam mitgebracht hatte.
Herter legte die Fernbedienung auf den Tisch, schenkte zwei Gläser voll und setzte sich auf die Bettkante. Während sie anstießen, sahen sie einander einige Sekunden schweigend an. Herters freie Hand ruhte auf ihrer Hüfte. Maria stellte ihr Glas auf die Kommode, legte ihre Hand auf seine und sagte:
»Das hab ich vergessen, dir zu erzählen. Gestern fragte Marnix mich plötzlich, wer Hitler war. Er hatte irgend etwas über ihn aufgeschnappt. Ich erzählte ihm dies und das, und dann sagte er: ›Hitler ist in der Hölle. Aber weil er böse Dinge mag, ist sie für ihn der Himmel. Im Himmel sind alle jüdischen Menschen, also ist das die Hölle für ihn. Zur Strafe müßte er eigentlich im Himmel sein.‹ Was sagst du dazu? Sieben Jahre. Von dem kannst du noch was lernen.«
4
Stöhnend und jammernd, daß er nicht Schriftsteller geworden sei, um unsterbliche Meisterwerke zu schaffen, sondern ausschließlich, um morgens ausschlafen zu können, stieg Herter am nächsten Tag um acht Uhr aus dem Bett. In einer Stunde sollte er sein erstes Interview geben. Die Sektflasche stand umgekehrt im Kühler, daneben noch eine halbe Flasche aus der Minibar. Die Festivitäten hatten bis tief in die Nacht gedauert, länger als fünf Stunden war das Licht nicht ausgeschaltet gewesen. Er verfluchte den schwangeren zweiten Mann, der all die Termine gemacht hatte, doch nach Dusche und Frühstück, das sie aufs Zimmer kommen ließen, ging es ihm besser. Als der erste Journalist anklopfte, machte Maria sich auf den Weg ins Kunsthistorische Museum.
Der Journalist um neun Uhr, der Journalist um zehn Uhr und die Journalistin um elf Uhr, jeweils in Begleitung eines Fotografen, alle hatten sie ihn gestern im Fernsehen gesehen. Ihre ersten Fragen drehten sich immer um Die Erfindung der Liebe , die sie offenbar wirklich gelesen hatten, und Herter gab sich Mühe, nicht jedesmal dasselbe zu sagen. Es war unvermeidlich, daß er sich des öfteren wiederholte, doch es mußte nicht unbedingt am gleichen Ort und zur gleichen Zeit geschehen. Niemand las alles, und wenn es zeitlich und räumlich weit genug auseinanderlag, konnte nichts passieren. Nur er selbst wußte, daß er dieses oder jenes schon irgendwann einmal in Amsterdam, Paris oder London spontan behauptet hatte. Doch alle drei Journalisten kamen anschließend auf seinen gestrigen Einfall zu sprechen, daß er Hitler in eine fiktive Situation versetzen wollte, um ihn auf diese Weise zu verstehen. Das paßte ihm gar nicht in den Kram, denn er wußte, daß viele seiner Kollegen Räuber und Taschendiebe waren, die nur darauf warteten, ihn zu bestehlen. Um sie zu entmutigen, beschloß er, seine Idee mit Marias Argument zu relativieren: Niemand könne sich eine so extreme Situation ausdenken wie die, die Hitler selbst herbeigeführt hatte.
Um halb zwölf beendete er das letzte Interview, er hatte keine Lust mehr und wollte nach draußen. Auf dem Gehsteig vor dem Hotel atmete er tief die kalte Luft ein. Es war windig. Mit hochgeschlagenem Kragen und wehendem Haar spazierte er die vornehme Geschäftsstraße Richtung Stephansdom. Auch jetzt ließ Hitler ihn nicht los. Vor fast hundert Jahren war auch er hier entlanggegangen, auf dem Weg zur Oper, um sich für eine Stehplatzkarte im Parkett für die Götterdämmerung anzustellen, ein Habenichts in verschlissenen Kleidern, von wilden Gedanken zerrissen. Vielleicht hatte er seinen fanatischen Blick kurz in den eines vorbeigehenden eleganten Offiziers gebohrt, ungefähr im selben Alter, den ziselierten Schmucksäbel an der Seite, das Monokel im Auge, Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit in der Innentasche, der auf dem Weg zu einer galanten Verabredung im Sacher war: Herters Vater. Am Dom bog er links ab und kam auf den Graben. Der große Raum, der breiter war als eine Straße und länglicher als ein Platz, wurde von einer Dutzende Meter hohen Pestsäule beherrscht, die man im siebzehnten Jahrhundert errichtet hatte, um Gott für die Erlösung von der Seuche zu danken – welche folglich, überlegte Herter, vom Teufel geschickt worden war. Er blieb stehen und ließ seinen Blick über das barokke Kunstwerk schweifen, das sich wie eine bronzene Zypresse in den Himmel wand. Wer tatsächlich die Pest endgültig besiegt hatte, war natürlich Alexander Fleming, der Entdecker des Penicillins: Er verdiente also eigentlich ein Denkmal so groß wie die Peterskirche in Rom.
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