Siegfried
verdüsterte sich, er verschränkte die Arme und betrachtete, ohne etwas zu sehen, die geräuschlosen Bilder auf dem Fernsehschirm. Das war genau die Bemerkung, die er nicht hatte hören wollen. Auch Sabine war die Morbidität seines Experiments klar gewesen, doch er spürte, daß er sich bereits zu sehr in dem Thema festgebissen hatte, um es noch loslassen zu können. Wenn er sich daran die Zähne ausbiß, dann war das eben so. Dann mußte er sich anschließend eben ein Gebiß anfertigen lassen. Ein Mädchen mit einer Schürze so weiß wie die österreichische Unschuld kam mit dem Eis. Unter lautem Klirren schüttete sie es in den Kühler und entkorkte die Flasche. Anschließend bereitete sie das Bett für die Nacht. Solange das Mädchen in der Suite war, sprachen sie nicht, als ginge es um äußerst geheime Dinge, die auch jemand, der ihrer Sprache nicht mächtig war, nicht hören durfte. »Eigentlich«, sagte Maria, als die Türklinke aus Messing sich langsam in die Höhe bewegt hatte, »verdankst du alles, was du hast, deiner Phantasie, etwas, das es in der wirklichen Welt nicht gibt.« »Außer dir und Olga. Obwohl … vielleicht auch euch. Nur meine Kinder nicht.«
»Na komm schon«, sagte Maria, »nicht so ängstlich. Die auch.«
»Das stimmt«, lachte Herter, wobei er die Flasche ein paarmal im Kühler drehte, »nicht lamentieren. Mich selbst auch.«
»Und woher kommt sie? Für dich ist es vollkommen selbstverständlich, aber die meisten Menschen haben kein bißchen Phantasie.«
Herter zuckte die Achseln.
»Erblich vorbelastet. Ich bin wie alle anderen in erster Linie ein Naturphänomen. In meinem Fall hängt es vielleicht auch damit zusammen, daß ich keine Brüder oder Schwestern hatte. Ich war häufig allein, und meine Eltern hatten als Immigranten kaum soziale Kontakte, schon gar nicht mit Niederländern. Bei uns zu Hause war alles anders als in niederländischen Familien. Bei meinen Freunden hieß es immer: ›Iß deinen Teller leer‹, während meine Mutter mir beigebracht hatte, immer etwas auf dem Teller liegenzulassen, eine Kartoffel zum Beispiel, denn sonst hätte ich vielleicht den Eindruck erweckt, hungrig zu sein, und das war nicht schick. Ich gehörte nicht wirklich dazu, also schuf ich mir eine eigene Welt. Geschiedene Eltern – das ist möglicherweise auch hilfreich. Eine Kombination all dieser Umstände. Jedenfalls habe ich nie darunter gelitten. Ich wollte auch nirgends dazugehören. Andere wollten immer zu mir gehören, auch später.«
In seiner Stimme schwang ein leises Mißvergnügen mit, was Maria nicht entging. Während sie ihm zuhörte, hatte sie den Fernseher beobachtet. Jetzt nahm sie die Fernbedienung und schaltete den Ton ein. Ein wenig ärgerlich, weil sie das Gespräch auf diese Weise unterbrach, schaute auch Herter sich den Naturfilm an. Unter einem bedrohlichen afrikanischen Himmel griffen Schakale eine Büffelherde an. Die Stimme aus dem Off sagte, sie hätten es auf ein Kälbchen abgesehen, das sie nun zuerst von der Mutter trennten. Als das Kälbchen ängstlich nach seiner Mutter suchte und bald darauf angesprungen und zerrissen wurde, sagte Herter mit verzerrtem Gesicht: »Muß das sein, Maria?«
Weil sie nicht gleich reagierte, nahm er die Fernbedienung von ihrem Schoß und schaltete den Fernseher aus. Mit großen Augen sah sie ihn an. »Was soll das?« »Ich will das nicht sehen.«
»Aber ich. Stell dich nicht so bescheuert an, so ist die Natur. Her mit dem Ding.«
Herter steckte die Fernbedienung in seine Innentasche.
»Ich muß das nicht sehen, um zu wissen, das die Natur ein einziger großer Fehlschlag ist.« Er deutete auf den grauen Bildschirm. »Der Kameramann hätte nur eins zu tun brauchen: die Kamera auf den Boden legen und das Kalb retten. Aber nein, er dachte: phantastisch, großartig, toll.« »Ich geh schlafen«, sagte Maria und stand auf. »Das ist mir zu blöd.«
Herter schloß die Augen und seufzte. Nicht einmal sie verstand letztendlich, wer er war – doch dieses Bewußtsein belastete ihn nicht, es gab ihm eher ein Gefühl der Bestätigung. Zufrieden bemerkte er, daß sie den Fernseher im Schlafzimmer nicht einschaltete. Da sie die Tür offengelassen hatte, konnte er sehen, wie sie sich auszog, wobei sie es vermied, zu ihm hinüberzuschauen, obwohl sie natürlich wußte, daß er sie beobachtete. Als sie aus dem Badezimmer kam, legte sie sich unter die üppige Bettdecke und wurde für ihn unsichtbar. Sie begann, in einem Buch über die
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