Sieh dich nicht um
Kleinbus umgestiegen und zu einem sogenannten »sicheren Haus« gefahren worden, einem Schulungszentrum in der Nähe von Washington.
Wie Alice im Wunderland, dachte Lacey, während ihre Identität mit jedem Tag in Klausur verblaßte. In diesen Wochen arbeitete sie mit einem Betreuer an einer neuen Lebensgeschichte. Alles, was sie je gewesen war, gab es auf einmal nicht mehr. Natürlich bestand es noch in ihrer Erinnerung, doch nach einer Weile begann sie, sogar diese in Frage zu stellen. Jetzt mußte sie sich mit wöchentlichen Telephonaten von abhörsicheren Anschlüssen und auf geheimen Wegen weitergeleiteten Briefen begnügen. Ansonsten hatte sie keine Kontakte mehr. Null. Nichts. Die Einsamkeit drohte sie zu verschlingen.
Ihre neue Identität wurde zu ihrer einzigen Wirklichkeit. Ihr Betreuer war mit ihr vor einen Spiegel getreten.
»Schauen Sie hinein, Lacey«, hatte er gesagt. »Sehen Sie diese junge Frau? Alles, was Sie über sie zu wissen glauben, stimmt nicht. Also vergessen Sie sie. Streichen Sie sie aus Ihrem Gedächtnis. Am Anfang wird es Ihnen ziemlich schwerfallen.
Sie werden sich fühlen wie eine Schauspielerin. Es gibt ein altes Lied von Jerry Vale, das das sehr treffend ausdrückt. Ich kann nicht singen, aber ich kenne den Text, und der geht so: Pretend you don't see her at all… it's too late for running…
look somewhere above her… pretend you don't see her at all…«
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Und in diesem Moment hatte Lacey sich für ihren neuen Namen entschieden: Alice Carroll. Alice nach Alice im Wunderland und Alice im Spiegelreich, und Carroll nach Lewis Carroll, dem Verfasser dieser Romane. Es paßte genau zu ihrer Situation.
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14
Als Rick Parker in dem Haus an der Ecke Fifth Avenue und 70.
Straße aus dem Aufzug trat, drang ihm sofort der ohrenbetäubende Lärm der Renovierungsarbeiten aus der Nachbarwohnung in die Ohren. Was für ein Pfuscher von Bauunterne hmer war da nur am Werk? dachte er gereizt. Ein Abbruchspezialist?
Dunkle Wolken verdüsterten den Himmel. Für den Abend waren Schneeschauer vorhergesagt. Doch selbst im Dämmerlicht, das zu den Fenstern hereinfiel, war der verwahrloste Zustand der Vorhalle und des Wohnzimmers von Heather Landis Maisonettewohnung deutlich zu erkennen.
Rick schnupperte. Die Luft roch abgestanden und nach Staub.
Als er Licht machte, sah er eine dicke Staubschicht auf Tischen, Bücherregalen und Schränken.
Er fluchte lautlos vor sich hin. Zum Teufel mit diesem Hausmeister! Schließlich war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß ein Bauunternehmer bei der Renovierung die Wohnungstüren ordentlich verklebte.
Er riß den Hörer der Gegensprechanlage vom Haken.
»Schicken Sie mir sofort diesen nichtsnutzigen Hausmeister herauf!« schnauzte er den Pförtner an. »Aber dalli!«
Tim Powers, ein gutmütiger Bär von einem Mann, war schon seit fünfzehn Jahren Hausmeister im Haus 70. Straße Ost Nr. 3.
Er wußte, daß der Hausmeister oft ins Schußfeld der Auseinandersetzungen zwischen Mieter und Vermieter geriet.
Doch wie er seiner Frau am Ende eines anstrengenden Tages oft lakonisch sagte, hatte man eben in der Küche nichts verloren, wenn man die Hitze nicht vertrug. Es war ihm in Fleisch und
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Blut übergegangen, freundlich auf verärgerte Hausbewohner zu reagieren, wenn sie sich wieder einmal über den langsamen Aufzug, tropfende Wasserhähne, laufende Toilettenspülungen oder launische Heizkörper beschwerten.
Aber als Tim jetzt auf der Schwelle stand und Rick Parkers Standpauke über sich ergehen ließ, kam er zu dem Schluß, daß er in all den Jahren so etwas noch nicht erlebt hatte. Erboste Klagen, schön und gut, aber einen derart entfesselten Wutanfall noch nicht.
Allerdings hatte es keinen Sinn, Rick über den Mund zu fahren. Auch wenn dieser Kerl nur ein junger Schnösel war, der von den guten Beziehungen seines Vaters profitierte, gehörte er trotzdem zur Familie Parker. Und die Parkers besaßen eine der größten Immobilien- und Hausverwaltungsfirmen in ganz Manha ttan.
Ricks Stimme wurde lauter und lauter, und er steigerte sich zusehends in seine Wut hinein. Als er schließlich Luft holen mußte, ergriff Tim die Gelegenheit. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse«, sagte er. Mit diesen Worten ging er hinaus auf den Flur und klopfte an die Tür der Nachbarwohnung.
»Charley, kommen Sie mal raus!« rief er.
Die Tür wurde aufgerissen, und das Hämmern und Krachen wurde lauter. Charley Quinn, ein Mann mit staubigem
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