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Sieh dich nicht um

Sieh dich nicht um

Titel: Sieh dich nicht um Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Vorhänge zugezogen und das Licht eingeschaltet. Das könnte ein Fehler sein, dachte Lacey, wenn die Vorhänge normalerweise offen waren. Einem Beobachter, der die Wohnung observierte – sei es von der Fifth Avenue oder von der 70. Straße – würde das bestimmt auffallen.
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    Andererseits würde es bestimmt auffallen, die Vorhänge zu öffnen, wenn sie normalerweise geschlossen waren. Mein Gott, wie man es machte, war es falsch.
    Die gerahmten Photos von Heather hingen nach wie vor im Wohnzimmer. Alles schien noch so zu sein, wie Isabelle es zurückgelassen hatte. Lacey schauderte. Fast erwartete sie, daß Isabelle die Treppe herunterkam.
    Da fiel ihr auf, daß sie noch nicht einmal ihren Daunenanorak ausgezogen hatte. Bei ihren früheren Besuchen in der Wohnung war sie stets damenhaft korrekt gekleidet gewesen. In ihrer Freizeitkluft, bestehend aus Anorak und Jogginganzug, kam sie sich jetzt völlig fehl am Platz vor. Als sie die Jacke öffnete, schauderte sie erneut. Plötzlich kam sie sich wie ein Eindringling vor, ein Gespenst unter Gespenstern.
    Früher oder später mußte sie sich überwinden, nach oben ins Schlafzimmer zu gehen. Das hätte sie lieber nicht getan, aber sie mußte einfach einen Blick hineinwerfen, nur um das Gefühl loszuwerden, daß Isabelles Leiche noch dort lag.
    In der Bibliothek stand ein Ledersofa, das sich in ein Bett verwandeln ließ, und neben der Bibliothek befand sich das Umkleidezimmer. Diese beiden Räume wollte Lacey benutzen.
    Sie hätte es nicht über sich gebracht, in dem Bett zu schlafen, in dem Isabelle erschossen worden war.
    Tim hatte erwähnt, im Kühlschrank sei etwas zu essen. Als Lacey ihren Anorak in den Flurschrank hängte, sah sie wieder Caldwell vor sich, der an ihr vorbeirannte, während sie sich im Schrank versteckte.
    Du mußt etwas essen, sagte sie sich. Du bist schon ganz nervös vor Hunger, und das macht alles noch schlimmer.
    Tim hatte ein kleines Festmahl für sie vorbereitet: ein gegrilltes Hühnchen, grüner Salat, Brötchen, ein Stück Cheddarkäse und Obst. Auf dem Regal stand ein halbleeres Glas Instantkaffee. Es stammte noch von Isabelle. Lacey erinnerte
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    sich, daß sie hier mit ihr Kaffee getrunken hatte.
    »Geh rauf«, sagte Lacey laut. »Bring's hinter dich.« Sie hinkte zur Wendeltreppe, stützte sich auf das schmiedeeiserne Geländer und humpelte hinauf.
    Sie gelangte durchs Wohnzimmer zum Schlafzimmer und warf einen Blick hinein. Auch hier waren die Vorhänge zugezogen; es herrschte Dunkelheit. Sie schaltete das Licht ein.
    Das Zimmer sah noch genauso aus wie an jenem Tag, als sie mit Curtis Caldwell hier gestanden war. Sie erinnerte sich gut, wie er mit nachdenklicher Miene seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Lacey hatte schweigend gewartet, da sie annahm, er werde ihr gleich ein Angebot für die Wohnung machen.
    Jetzt wurde ihr klar, daß er nur hatte sichergehen wollen, daß Isabelle ihm nicht entwischen konnte, wenn er wiederkam, um sie zu töten.
    Wo mochte Caldwell jetzt sein? Plötzlich ergriff Lacey ein überwältigendes Gefühl der Panik und Mutlosigkeit. War er ihr nach New York gefolgt?
    Lacey betrachtete das Bett und sah Isabelles blutige Hand vor sich, wie sie versuchte, die Tagebuchseiten unter dem Kopfkissen hervorzuzerren. Sie hörte fast noch den Nachhall ihrer letzten Bitte:
    Lacey… geben Sie Heathers… Tagebuch… ihrem Vater… Nur ihm… Versprechen Sie mir das…
    Mit grauenhafter Deutlichkeit erinnerte sich Lacey an das Keuchen und die erstickten Atemzüge zwischen den mühsam hervorgestoßenen Worten.
    Lesen Sie es… Zeigen Sie ihm… wo… Dann hatte Isabelle ein letztes Mal Luft geholt, um zu sprechen. Aber sie brachte nur noch ein Wispern hervor: Mann…
    Lacey machte kehrt, humpelte durchs Wohnzimmer und die
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    Treppe hinunter. Iß zu Abend, geh unter die Dusche, leg dich ins Bett, sagte sie sich. Du darfst nicht so schreckhaft sein. Ob es dir nun paßt oder nicht, du mußt hierbleiben. Sonst kannst du nirgends hin.
    Vierzig Minuten später saß sie, in Decken gewickelt, auf der Couch in der Bibliothek. Die Kopie von Heather Landis Tagebuch lag auf dem Schreibtisch, die drei unlinierten Seiten hatte sie vor sich ausgebreitet. Im matten Licht, das vom Flur hereinfiel, erinnerten die Blutflecken, die Heathers Handschrift im Original verwischt hatten, an einen Rorschach-Test. Was bedeuten diese Kleckse für Sie? schienen sie zu fragen.
    Was siehst du darin? überlegte Lacey. Obwohl sie

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