Sieh dich nicht um
geschlafen. Als sie die Augen aufschlug, fühlte sie sich wie auf dem Behandlungsstuhl beim Zahnarzt, umnebelt von einem leichten Beruhigungsmittel. Etwas tat weh, aber jetzt war es natürlich ihr Knöchel und nicht die Zähne. Außerdem fühlte sie sich benommen, aber nicht so sehr, daß sie nichts mehr wahrgenommen hätte. Sie erinnerte sich an gedämpfte Geräusche, die von der Straße heraufdrangen, ein Krankenwagen, ein Polizei- oder Feuerwehrauto.
Es waren die vertrauten Geräusche Manhattans, die immer gemischte Empfindungen bei ihr ausgelöst hatten - Sorge um die Verletzten, aber gleichzeitig das Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Da draußen gibt es Leute, die sind in Bereitschaft und kommen, wenn ich Hilfe brauche, hatte sie sich immer gesagt.
Das Gefühl habe ich jetzt nicht mehr, dachte sie, als sie die Decke wegschob und sich aufsetzte. Detective Sloane war in Rage geraten, weil Lacey Heathers Tagebuch genommen hatte; Bundesstaatsanwalt Baldwin war bestimmt ausgerastet, als er hörte, daß sie ihrer Mutter gesagt hatte, wo sie sich aufhielt, und dann weggelaufen war.
Ja, er hatte sogar angedroht, sie zu inhaftieren und als wichtige Belastungszeugin festzuhalten, wenn sie sich nicht an die Regeln des Schutzprogramms hielt. Und Lacey war sicher, daß er seine Drohung wahrmachen würde – falls er sie aufspürte. Sie stand auf, belastete automatisch den linken Fuß und biß sich auf die Lippen, als der geschwollene rechte Knöchel schmerzhaft pochte.
Sie stützte sich auf dem Schreibtisch ab. Die drei unlinierten Seiten lagen immer noch da und zogen sofort Laceys
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Aufmerksamkeit auf sich. Wieder las sie die erste Zeile auf der ersten Seite. »Mittagessen mit Mr.« – oder hieß es Max oder Mac? – »Hufner. Das wird bestimmt ein Spaß. Er sagt, er sei alt geworden und ich erwachsen.«
Das klingt, als spräche Heather von jemandem, den sie schon lange kennt, überlegte Lacey. Wen könnte ich fragen? Es kommt nur einer in Frage: Heathers Vater.
Bei ihm liegt des Rätsels Lösung, entschied Lacey.
Sie wollte sich anziehen und sich etwas zu essen besorgen.
Außerdem mußte sie alle Spuren ihrer Anwesenheit in der Wohnung beseitigen. Es war Sonntag. Tim Powers hatte versprochen, sie zu warnen, wenn ein Immobilienmakler mit einem Kaufinteressenten vorbeikommen wollte, aber Lacey befürchtete, daß unangemeldeter Besuch auftauchen könnte. Sie sah sich um und überlegte, was sie auf jeden Fall wegräumen mußte. Das Essen im Kühlschrank wies eindeutig darauf hin, daß die Wohnung benutzt wurde, ebenso die feuchten Handtücher und der Waschlappen.
Sie beschloß, kurz unter die Dusche zu gehen, damit sie richtig wach wurde. Sie wollte endlich das Nachthemd ablegen, das Heather Landi gehört hatte. Aber was soll ich dann anziehen? fragte sie sich. Es behagte ihr nicht sonderlich, schon wieder in Heathers Sachen herumwühlen zu müssen.
Kurz nach ihrer Ankunft in der Wohnung hatte sie geduscht und war, in ein großes Badehandtuch gehüllt, noch einmal nach oben gegangen, um sich ein Nachthemd zu holen. Es kam ihr ziemlich makaber vor, als sie die Türen des begehbaren Kleiderschranks im Schlafzimmer öffnete. Obwohl sie nur rasch etwas Geeignetes heraussuchen wollte, bemerkte sie auf den ersten Blick, daß die Sachen auf den Bügeln zwei verschiedenen Stilrichtungen angehörten. Isabelle hatte sich äußerst geschmackvoll und konservativ gekleidet. Ihre Kostüme und Kleider waren leicht zu erkennen. Die restlichen Sachen auf der
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Kleiderstange und in den offenen Regalen waren eine kunterbunte Kollektion von Minis, langen Röcken, ausgefallenen Hemden, romantischen Gewändern, Cocktailkleidern, die aus höchstens einem Meter Stoff bestanden, Schlabberpullis und mindestens einem Dutzend Jeans, offensichtlich alles von Heather.
Lacey hatte nach einem weiten Nachthemd mit roten und weißen Streifen gegriffen, das mit Sicherheit Heather gehört hatte.
Wenn ich aus dem Haus gehe, kann ich nicht wieder meinen Jogginganzug und den Anorak anziehen, dachte sie. Die Sachen hatte ich gestern an. Da wäre ich leicht zu erkennen.
Zum Frühstück gab es Kaffee und ein getoastetes Brötchen, dann ging sie unter die Dusche. Die Unterwäsche, die sie am Abend gewaschen hatte, war inzwischen getrocknet, nicht aber die dicken Socken. Wieder mußte sie die Garderobe von zwei toten Frauen durchgehen, um etwas zum Anziehen zu finden.
Um acht meldete sich Tim Powers über die Haussprechanlage. »Ich
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