Sieh dich um: Thriller (German Edition)
konnte nicht zurückkehren. Er war tot . Sie hatte gesehen, wie er gestorben war, aus weniger als zwei Metern Entfernung. Sie hatte es genossen , dabei zuzusehen, wie der Mistkerl starb.
Als Danas Blick wieder klar wurde, betrachtete sie die winzige Aufschrift in der rechten unteren Ecke des Fotos.
Grafx, 2004
»Das ist ein altes Foto«, stellte sie fest. »Kein aktuelles. Dieses Bild wurde vor sieben Jahren aufgenommen.«
Brown musterte den Schriftzug, dann hob er den Arm und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißfeuchte Stirn. »Das ist die größte Agentur für Schulfotos im ganzen Land«, sagte er. »Wir wurden auch als Kinder von ihnen fotografiert.«
»Wir auch.«
So schwer es ihr fiel, Dana zwang sich, in der Gegenwart zu bleiben, die Informationen zu verarbeiten und sich nicht wieder in den Trümmern ihrer Vergangenheit zu verlieren. Dafür war jetzt keine Zeit. Das Leben eines Jungen stand vielleicht auf dem Spiel. Sie atmete ein weiteres Mal tief durch. Es half ein wenig.
Trotz ihres ursprünglichen Schocks beim Anblick des Fotos wurde ihr nach kurzem Überlegen klar, dass sie von der Entdeckung nicht so überrascht hätte sein dürfen. Nicht wirklich. Psychopathische Serienmörder wie dieser forderten die Ermittlungsbehörden irgendwann immer unverhohlen heraus. Das war ein Bestandteil ihrer kollektiven Vorgehensweise, ihrer kollektiven Psychose.
Die Neun-Millimeter-Patrone und das Foto des Jungen waren zwar neue Ergänzungen in der Collage grauenvoller Bilder, die den verzerrten Blick des Schachbrett-Mörders auf die Welt skizzierten, doch das Schachbuch selbst war keine. Stattdessen schien das Buch über den berühmten Großmeister Amos Burn – genau wie die anderen Schachbiografien – das Äquivalent dieses Killers für einen Brief an die Polizei zu sein. Seine Art, Dana und Brown zu verspotten. Sich über sie lustig zu machen. Sie herauszufordern. Indem er die Patrone auf den Tisch gestellt und das Foto des Jungen in das Schachbuch gelegt hatte, hatte er seine grausige Herausforderung lediglich unterstrichen.
Herausforderung angenommen.
Dana biss sich auf die Unterlippe, eine unselige Angewohnheit, die aus ihrer Zeit an der Grundschule stammte und die sie nie wirklich abgelegt hatte. Sie spielte mit dem kleinen Kruzifix an der dünnen Goldkette um ihren Hals, während sie versuchte, die Dinge zu durchdenken. Psychopathen wie der, den sie und Brown jagten, waren in der Regel wesentlich organisierter als ihre soziopathischen Pendants – sie hielten sich für schlauer als jeder andere auf der Welt, und die Vorstellung, jemals geschnappt zu werden, erschien ihnen nachgerade absurd – genau dieser Narzissmus war es, der sie üblicherweise zu Fall brachte. Früher oder später würde auch der Schachbrett-Mörder einen Fehler begehen, aber wie viele Opfer mussten davor noch sterben? Sie konnten es sich nicht leisten, ihm die Initiative zu überlassen. Sie brauchten einen Durchbruch bei den Ermittlungen, und zwar möglichst bald. Die Medien waren wütend, die New Yorker waren wütend – wütend und verängstigt –, und es lag allein in Danas und Browns Verantwortung, dem ein Ende zu bereiten.
Vor einigen Jahren hatte Dana ein Symposium über Serienmörder besucht, das der Stab der berühmten Abteilung für Verhaltensanalyse des FBI abgehalten hatte. Sie hatte dabei viel gelernt. Beinah genauso viel wie in ihren Tagen als eifrige Studentin an der FBI Academy, als sie noch ein naiver Grünschnabel gewesen war und inständig geglaubt hatte, jeder Mord könnte aufgeklärt werden, wenn man nur genügend Zeit und Energie in die Ermittlungen steckte.
Leider war Dana kein Grünschnabel mehr. Schon lange nicht mehr. Dieses Schiff war längst davongesegelt und hatte sie allein am Pier des mittleren Alters zurückgelassen, ob es ihr gefiel oder nicht. Sie war alt genug, um zu begreifen, dass die Guten diese herzzerreißenden Spiele manchmal verloren – ein wenig zu oft für ihren Geschmack.
Bei dem Symposium hatte sie gelernt, dass Serienmord weder ein neues noch ein spezifisch amerikanisches Phänomen darstellte. Serienmorde hatte es zu allen Zeiten gegeben, zurückreichend bis in die Antike, überall auf der Welt. Und Serienmord war ein relativ seltenes Phänomen, auch wenn die überdurchschnittliche Aufmerksamkeit der Medien den Eindruck des Gegenteils erweckte. Weniger als ein Prozent aller Morde gingen auf Serienkiller zurück. Trotzdem bestand ein makabres Interesse an dem
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