Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)
wollte gerade dazu ansetzen, ihn mit der Information zu erfreuen, dass die Kellnerinnen in dem einzigen Diner in Wisconsin, das sie je betreten hatte, scheußliche rosafarbene Polyesteruniformen getragen hatten, doch bevor sie auch nur eine Silbe äußern konnte, klingelte das Telefon.
«Ja?» Grace hatte sofort nach dem Hörer gegriffen und lauschte kurz, dann sagte sie: «Alles klar», legte wieder auf und sah zu Annie hinüber. «Magozzi hat einen möglichen Tatort. An der Kreuzung Interstate 94 und Wisconsin Highway 10 gibt es ein Diner, das Little Steer heißt.»
«Scheiße!», posaunte Harley. «Welches County ist das? Und wie heißt der Sheriff?»
«Bin schon dran!», rief Roadrunner dazwischen.
Agent John Smith stützte die Unterarme auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Es würde ein weiteres Opfer geben.
Lisa Timmersman war felsenfest davon überzeugt, dass es auf Gottes schöner Welt nicht einen Funken Hoffnung gab, schlank zu bleiben, wenn man auf einer Farm in Wisconsin aufwuchs. Nach Aussage ihres Vaters hatte sie ein Geburtsgewicht von fast fünf Kilo auf die Waage gebracht und noch als Säugling das erste Plätzchen verlangt. Angesichts ihrer äußerst stämmigen Familie war sie eine Zeit lang tatsächlich sicher gewesen, eine genetische Fettbombe in sich zu haben, die irgendwann zwangsläufig explodieren musste.
Es war ihr damals nie in den Sinn gekommen, dass es vielleicht auch mit dem Butterschmalz zum selbstgebackenen Brot oder mit der Bratensauce zusammenhängen könnte, die es zu fast jedem Essen gab. Sie kannte es ja nicht anders und dachte auch kaum darüber nach, weil all die anderen Bauernkinder in der kleinen Dorfschule genauso aussahen wie sie.
Doch als im zweiten Schuljahr die kleine, schmale Cassandra Michels aus Milwaukee in ihre Klasse kam, erklärte sie Lisa, sie sei das dickste Mädchen, das sie je im Leben gesehen habe, und müsse sich dringend eine Essstörung zulegen. Lisa hatte damals keine Ahnung, was eine Essstörung war und wo man die bekommen konnte. Doch trotzdem zog sie eine wichtige Lehre aus dieser einen kleinen Bemerkung dieser einen kleinen Person: Außerhalb des abgeschlossenen Zirkels ihrer Kindheit würde sie kein Mensch jemals lieben, weil sie als dickes Mädchen in eine dicke Familie hineingeboren war und das weder durch Geld noch durch gute Worte ändern konnte.
Dann hast du eben ein paar Pfund zu viel, Süße. Ist doch nicht weiter schlimm. Dann fallen die Männer weicher, und irgendwann kommt die Zeit, da wirst du das zu schätzen wissen.
Lisa war damals acht und hatte keine Ahnung, was ihr Vater ihr damit sagen wollte. Doch noch Jahre später quälten sie Albträume von irgendeiner verschwommenen Zukunft, in der dicke, behaarte Männer auf sie plumpsten und sie unter sich zerquetschten.
Es war ja auch weder die Schuld ihres Vaters, der das züchtete, was Lisa aß, noch die ihrer Mutter, die das Essen auf den Tisch brachte. Sie hatten alles dafür getan, ihrer Tochter zu zeigen, wie lieb sie sie hatten, wie hübsch und klug sie war und dass sie im Leben alles erreichen konnte, was sie wollte. Sie meinten es nur gut, doch ihnen fehlte die Cassandra-Michels-Perspektive, die für Lisa entscheidend war.
Als sie dreizehn war, installierte ihr Vater eine Satellitenschüssel, und Lisa entdeckte den Kochkanal Food Network. Die Köche dort trugen schicke weiße Jacken und Clogs bei der Arbeit, was unfassbar cool aussah. Und viele von ihnen waren ziemlich dick, doch kein Mensch machte sich über sie lustig. Das gab den Ausschlag. Lisa würde eine weltberühmte Köchin werden. Sie würde nach Chicago auf die Kochschule gehen, vielleicht auch nach Minneapolis, und dann würde sie für eine neue Haustür sorgen, die so dicht schloss, dass ihre Mutter keine Decken mehr davorlegen musste, um den kalten Winterwind auszusperren. Und vielleicht auch für einen dieser neuen stahlglänzenden Dampfreiniger, damit ihr Vater sich nicht mehr zu Tode schuften musste, um das Melkhaus zweimal täglich mit Gartenschlauch und Schrubber zu reinigen.
Sie fing an, neben der Schule in dem Diner draußen an der Autobahn zu jobben, dem Little Steer . Anfangs spülte sie dort Geschirr, bediente und sparte jeden einzelnen Cent, den sie verdiente. Die Sojapreise waren in den Keller gegangen, und wenn sie nicht in irgendeiner Highschool-Cafeteria enden wollte, wo man noch diese Mützen tragen musste, die die halbe Stirn bedeckten, musste sie sich ihre Ausbildung wohl
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