Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
beides beobachtete.
Jetzt, wo der Gang frei war, gingen Schaffner in koboldgrünen Uniformen durch die Waggons. Genauso lethargisch wie der Zug drückten sie Löcher in Fahrkarten und rieten Mitreisenden mit dem Ziel Ancona, vier Wagen weiter nach vorn zu gehen, wenn sie auf einem Bahnsteig aussteigen wollten. Der Zug mit den zwölf Waggons war für die meisten Bahnhöfe zu lang. Als ich zum Gangfenster ging, um mir die Füße zu vertreten und den Sandburgen bauenden Kindern zuzuwinken, sah ich, wie sich der Zug, während wir Bucht um Bucht umrundeten, gewissermaßen selbst in den Schwanz biss wie ein von Flöhen geplagter Hund.
Während meines kleinen Spaziergangs bemerkte ich einen Feuerlöscher in einem Glasgehäuse. » Rompere in caso d’incendio « stand auf einem Schild. Darüber riet mir die englische Übersetzung, das Glas im Fall eines Feuerwerks einzuschlagen. Ich habe nie verstanden, warum sich Italiener die Mühe machen, etwas zu übersetzen, ohne vorher jemanden zu befragen, der beide Sprachen beherrscht. Während meines ersten Sommers in Andrano hatte ich überlegt, ein Kajak zu kaufen. Nichts Aufregendes, nur ein kleines Kanu, mit dem ich an einem sonnigen Nachmittag nach Albanien und wieder zurück paddeln könnte. Die zweisprachige Broschüre, die ich mitnahm, verkündete stolz, die Boote seien »optimal für Witzsportarten geeignet«. Und die Kopfhörer, die ich in Mailand kaufte, waren laut Verpackungsaufdruck gut für Schüler geeignet, die sich auf »lärmende Bücher« konzentrieren wollen. Nachdem ich mir die Beine vertreten hatte, kehrte ich in meine Zelle zurück und hoffte, es ohne »Feuerwerk« bis Lecce zu schaffen.
Als ich mein Abteil betrat, redeten die anderen gerade über Australien und wie es sich wohl anfühlen muss, von einer solch endlosen Weite umgeben zu sein. Mir wurden alle möglichen Fragen gestellt, von denen einige leichter zu beantworten waren als andere: Wie groß ist die Bevölkerung? Wie lange fliegt man von Italien dorthin? Sind Ihre Politiker ehrlich? Wie viel kostet dort Fleisch? Was ist das beliebteste Gericht? Stimmt es, dass Australier Kannibalen sind, oder sind das die Neuseeländer? Kann man Kängurus reiten?
Die letzte Frage kam von Silvia, der attraktiven jungen Frau, die mit ihrer Mutter reiste. Ich nahm an, dass Silvia noch nicht sehr viel von der Welt gesehen hatte. Nicht nur, weil ihre Frage so naiv war, sondern auch – wie Renato vermutete, als wir den Zug verließen -, weil sie ihr ganzes Taschengeld für eine Brustvergrößerung ausgegeben hatte. Renatos Theorie war kein Schuss ins Dunkle, sondern beruhte auf »handfesten Beweisen«, die seit Rimini aus Silvias Bluse hervorsahen. Ihre oberen Blusenknöpfe mussten wegen der ruckeligen Fahrt in dem stark vibrierenden Zug aufgesprungen sein. Wären wir mit einem sanften Eurostar gereist, wären diese sinnlichen blinden Passagiere bestimmt nie entdeckt worden.
Da wir ihr direkt gegenübersaßen, entdeckten Renato und ich auf Anhieb den sicherlich bequemsten Platz im ganzen Zug. Aber Renatos penetrantes Starren alarmierte schon bald die Mutter des Mädchens, die ihrer Tochter heimlich ein Zeichen gab und sie auf das Malheur aufmerksam machte. Ich kannte das Foto, das Ruth Orkin von einer jungen Amerikanerin gemacht hat, die auf einer italienischen Straße von Männern beäugt wird, die keinerlei Hehl aus ihrer Begierde machen. Mit den Händen in den Hosentaschen starren sie das Mädchen grinsend an, das sich seinen Schal enger um die Schultern zieht und die Flucht ergreift. Zunächst gefiel mir das Foto nicht, weil die Frau so verzweifelt wirkt. Aber nachdem ich in Italien lebte, muss ich zugeben, dass diese Vulgarität an der Tagesordnung ist.
Wie mehreren Reisenden, die beinahe vor die Wand liefen, als sie Silvia entdeckten, war es auch Renato unmöglich, eine schöne Frau nicht anzustarren. Oder wie in seinem Fall, sich von den Körperteilen einer schönen Frau anstarren zu lassen. Die als Pokneifer berüchtigten Italiener machen keinen Hehl aus ihren Sehnsüchten und weigern sich zu akzeptieren, dass so ein natürlicher Drang auch als Vergehen interpretiert werden kann. Im Gegensatz dazu finden viele Ausländer ihre Unverblümtheit respektlos, so wie ich anfangs auch, angesichts des Orkin-Fotos. Sie begehren Respekt, während die Italiener die Begierde respektieren. Wer von beiden ist ehrlicher? Ich gab vor, nicht auf Silvias Brüste zu starren, während Renato sein Ziel fest ins Visier nahm. Wir
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