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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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Waggon hinter mir, dem ein Mann im Nadelstreifenanzug entstieg. Er gab einem Beamten seinen Koffer und einem anderen einen Vogelkäfig. Die bewaffneten Männer begleiteten die Neuankömmlinge zum Ausgang, zwei gingen vorneweg, zwei dahinter und je einer an ihrer Seite. Ob diese Eskorte zu dem Mann oder dem Vogel gehörte, kann ich nicht sagen.
    Knapp oberhalb der Menschenmenge schwenkte ein Bahnbeamter einen roten Lumpen. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen und einer Kappe unter dem Arm verrenkte er sich das Genick und sah in Richtung Zuganfang, in der Hoffnung, der Lokführer könne ihn sehen. Zehn Minuten später hielt derselbe, immer noch rauchende Beamte einen grünen Lumpen hoch. Wahrscheinlich hatte der Mann wegen des vielen Rauchens einfach nicht mehr genug Puste, um in seine Trillerpfeife zu blasen. Fenster klapperten, als wir wieder loszuckelten und uns Daniela und Lecce im Schneckentempo näherten. Kurz bevor wir die Höchstgeschwindigkeit erreichten, verlangsamte der Zug wieder, um an einem weiteren Bahnhof zu halten, während ein anderer vorübersauste. Für ein System, das mithilfe von Lumpen in Gang gehalten wird, funktionierte es ziemlich gut, auch wenn wir mittlerweile zwei Stunden Verspätung hatten.
    Patrizia hatte uns in Pescara verlassen und schwor, nie mehr diesen Zug zu nehmen – bis zum nächsten Mal. Ihr Platz wurde von einer Frau mittleren Alters eingenommen, die nach Bari fuhr, um ihre Schwester zu besuchen. Rita war zunächst eher schweigsam, bis ich ein Sandwich auspackte. Dann wurde während der nächsten drei Stunden nur über Essen geredet.
    »Mit was ist es belegt?«, fragte sie.
    »Mit Schinken und Käse«, erwiderte ich.
    »Was für eine Sorte?«
    »In Scheiben.«
    Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich esse lieber, als übers Essen zu reden. Damit war ich jedoch hoffnungslos in der Minderheit. Die italienische Flagge ist ein dreifarbiges Tischtuch, dem die Bürger ewige Treue geschworen haben. Das Essen ist Italiens nationales Gesprächsthema. Übers Essen wird noch mehr geredet als über Fußball, sodass es auch bei zufälligen Begegnungen von Fremden zuverlässig zum Thema wird: Das kann in einem Aufzug sein, an einer Straßenabsperrung mit einem Carabiniere – und jetzt geschah es eben in diesem langsam dahinkriechenden Zug. Wenn ausländische Würdenträger Italien einen Besuch abstatten, achten die Zeitungen mehr darauf, was sie essen, als wen sie treffen. Ich sah einmal, wie ein Journalist live von vor dem Parlamentsgebäude berichtete und die Zuschauer wissen ließ, dass Bush und Berlusconi darin seien und gerade Lammkoteletts und Zitroneneis äßen. Das Schlimmste, das einem an einem italienischen Diplomatentisch passieren kann, ist ein Streit übers Essen.
    Auch Fragen in italienischen Quizshows sind oft kulinarischer Natur. Neben anderen pikanten Dingen will man beispielsweise von den Kandidaten wissen, wer der Schutzheilige der Weinbauern ist. Oder aber sie müssen bestimmte Gerichte ihrer Herkunft nach von Norden nach Süden sortieren. Und wenn es ausnahmsweise einmal nicht ums Essen geht, dann um seinen Preis. In einer sizilianischen Bar sah ich folgenden Zettel an einem Spielautomaten: » Le vincite si pagano con buoni consumazione « – »Die Gewinne werden in Essensgutscheinen ausbezahlt«. Nur in Italien gewinnt man bei fünf Zitronen am Einarmigen Banditen tatsächlich auch fünf Zitronen.
    Als rundlicher Hausfrau verlieh Rita ihr kulinarisches Wissen fast schon so etwas wie Kultstatus. Meine Mitreisenden hingen an ihren Lippen und notierten jedes ihrer Rezepte. Aber es war Renato, der mich neugierig machte, nicht Rita. Der 32-jährige Bankangestellte mit den Hobbys Tennis und Titten schien aufrichtig daran interessiert zu sein, von einer völlig Fremden zu erfahren, dass er sich mit seiner Zubereitungsart von Cannelloni schon seit Jahren schwer versündige. Was war nur mit dem sexistischen Italien passiert? Sollte Renatos Frau nicht eigentlich in der Küche schuften, während er in der Bar saß und Karten spielte? Aber dieser »neue Mann« fragte doch tatsächlich nach Tipps, wie er seine Lieblingsrezepte verfeinern könne. Silvia und ihre Mutter waren ebenfalls begeistert, widersprachen Rita aber in puncto Artischocken und sagten, es sei nicht das Beste, sie im Ganzen zu kochen, sondern sie in Würfel zu schneiden und in Olivenöl zu frittieren. » Extra vergine? «, hakte Renato nach. Einen kurzen Moment lang schien er wieder ganz der Alte zu

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