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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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mehreren Hundert Gläubigen in unordentlichen Reihen gebildet, die sich unterhielten und versuchten, ihre Kinder um sich zu scharen – und zwar mit einem Vokabular, das sich für eine religiöse Prozession geziemt.
    Um elf Uhr morgens tobte die Kirchenglocke etwa eine halbe Stunde lang. Es folgten mehrere Sekunden bemerkenswerter Ruhe – vielleicht das einzige Wunder der Madonna an diesem Tag -, bis das Feuerwerk begann und sämtliche Straßenköter Reißaus nahmen. Neugierig rannte ich auf die Dachterrasse, wo sich das Pulver von Hunderten von Explosionen vor einem blauen Hintergrund abhob wie Flakgeschütze vor einem von Krieg zerrissenen Himmel. Daniela, die mir auf die Terrasse gefolgt war, nahm meine Frage vorweg und schrie, dass es auf das richtige Timing der Explosionen ankäme, das nur von Eingeweihten beurteilt werden könne. Da sie nicht wissen konnten, welch genauer Choreographie dieses bedrohliche Spektakel folgte, übergaben sich die Chihuahuas erneut und ruinierten den Teppich ihres Besitzers. Der Lärm war unglaublich aufregend und absurd.
    Gegen zwei pausierte der Ort, während die Feiernden sich und wahrscheinlich auch ihr Gehör erholten, um sich auf die lange Nacht vorzubereiten. Eine Zigeunerfamilie hatte ihre Zelte im Burgpark vor unserem Haus aufgeschlagen. Zwei nackte Kinder sahen zu, wie ihre Mutter den Bruder wusch, ihm Wasser über den Kopf schüttete und seinen mageren Körper mit ihren Händen abrubbelte. Der Vater schlief auf einer schmutzigen Matratze auf der Straße. Sie lag hinter einem zerbeulten Auto, dessen Motorhaube von Spielzeug bedeckt war, das später auf dem Fest verkauft werden sollte. Die Kleidung der Kinder, die genauso nachlässig gewaschen worden war wie ihre Besitzer, war auf einer hüfthohen Hecke zum Trocknen ausgebreitet worden. Andrano schlief. Der Einzige, der etwas gegen die Zigeuner einzuwenden hatte, war ein Straßenköter, der in der Hecke sein Zuhause gefunden hatte. Die Kinder zogen an seinem Schwanz voller Flöhe, während sie auf ihre Dusche warteten.
    Kurz darauf hörte ich, wie Umberto dem vigile etwas zuschrie, der gerade auf seinem Motorrad vorbeikam. Da meine Übersetzerin schlief, versuchte ich, etwas von ihrem Streit mitzubekommen, nahm jedoch an, es ginge um die Nomadenfamilie unweit von Umbertos Gartentor. Ihre Auseinandersetzung wollte gar kein Ende mehr nehmen. Als sie endlich vorbei war, ging ich nach draußen und sah, dass die Zigeunerfamilie schlief und zwei streunende Hunde mitten auf der Straße kopulierten – die süditalienische Variante eines Quickies. Trotz Umbertos Empörung stand es offensichtlich nicht in der Macht des vigile , die Nomaden zum Weiterziehen zu bewegen. Erst nach acht, als das Fest bereits begonnen hatte, pflückten sie ihre Kleider aus den Sträuchern und zogen zur Piazza, wo es vor Menschen nur so wimmelte.
    Etwa um dieselbe Zeit sprach Daniela ihr alljährliches Gebet zur Madonna. Nichts Besonderes, nur ihre normale Bitte um einen Hagelsturm, der die kitschige Deko auf der Piazza zerstören sollte. Tausende winzig kleine Lämpchen, die bunte Muster bildeten, waren an drei Stockwerke hohen Gerüsten befestigt worden, die nun den Dorfplatz säumten. Ein Knopfdruck genügte, und die schlichte Piazza verwandelte sich in Las Vegas, in ein Neongefängnis aus Palmen und Wasserfällen, eine grellbunte Amüsiermeile. Die Burg, die Kirche, jedes Bauwerk, das sich auf der Piazza erhob, wurde von den Lichtern schier ausgelöscht, so als müsse das Dorf aufhören zu existieren, wenn das Fest begann.
    Die Stangen, die das kitschige Lämpchenarrangement stützten, wurden von Angelschnüren gehalten, die überall festgebunden waren: an Balkonen, Glockentürmen, Straßenlaternen und Statuen. Obwohl die Struktur gigantisch war, hätte man sie leicht mithilfe einer Schere und ein paar Grundkenntnissen des Dominoeffekts zu Fall bringen können. Aber Daniela vertraute lieber auf die Kraft des Gebets und flehte einen Hagelsturm herbei. Den sollte die abergläubische Gemeinde dann zum Zeichen nehmen, dass die Madonna ihr Opfer verweigert habe, was dem Ort in den kommenden Jahren ein Vermögen gespart hätte. Irgendjemand musste den Leuten doch sagen, dass das Fest reine Geldverschwendung war! Daniela fand, das könne gut und gern der Ehrengast übernehmen.
    Die Lämpchen strahlten eine enorme Hitze ab – laut Daniela, die das Fest sichtlich nicht genoss, kam man sich darunter vor wie in einer Mikrowelle. Wenn ich sie gelassen hätte,

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