Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
wäre sie längst nach Hause gegangen, aber ich wollte unbedingt verstehen, was ihr an dem Spektakel so missfiel – eine Einstellung, mit der sie, den anschwellenden Menschenmassen nach zu urteilen, ziemlich alleine dastand.
Am Ende des Platzes befand sich eine Bühne, auf der die Blechbläser trompeteten, was das Zeug hielt. Die von der Piazza abgehenden Straßen waren für den Verkehr gesperrt und wurden von Ständen mit Spielzeug, Schießständen, Wurfbuden, Karussells und einem winzigen Riesenrad gesäumt. Ein Schweinekopf markierte den Beginn der Fressstände. An einer improvisierten Bar wurden Bier, Wein und Mineralwasser verkauft. Eltern schenkten ihren Kindern mit Helium gefüllte Ballons – Delfine und Dalmatiner, die an roten Bändern über der Menge schwebten. Die Einheimischen saßen auf Plastikstühlen und unterhielten sich über den Lärm der Blechbläser hinweg, die Verdi und Rossini sechs Stunden am Stück den Garaus machten.
Einwandererfamilien, meist Asiaten und Afrikaner, die im August von einem Fest zum nächsten zogen, verkauften Modeaccessoires und jede Menge Krimskrams wie Mikroskope, Blutdruckmessgeräte, Wasserpistolen, Ferngläser, Socken, gefälschte Handtaschen, Uhren und Kulis. Letztere dienten gleichzeitig als Feuerzeug (für Autoren mit Schreibblockade geradezu ideal). Und falls einen die Lichter zu sehr blendeten, gab es auch noch Sonnenbrillen. Das einzig Religiöse an diesem Abend war, dass die vigili die Einwanderer in Ruhe ließen, weil sie viel mehr damit beschäftigt waren, den Verkehr in den umliegenden Straßen zu regeln, als ihre Papiere zu überprüfen.
Mehr oder weniger lebendige Ware wurde ebenfalls verkauft. Wie beliebt sie war, sah man daran, dass ihr Verkäufer schlief. Hinter ihm befand sich ein dreckiges Aquarium mit etwa fünfzig Fischen. Das Wasser, in dem sie sich um die letzten Spuren von Sauerstoff stritten, war so brackig, dass es einen Tarantato hätte heilen können. Über dem Aquarium hingen winzige Vogelkäfige, würdelose Kerker, die so klein waren, dass ihre Bewohner sich nicht einmal darin umdrehen konnten. Der Heilige Geist schien nicht allen Geschöpfen Gottes gleichermaßen wohlgesonnen zu sein.
Die Festbesucher hatten sich herausgeputzt. Laut Daniela hatten sich fast alle Frauen zu diesem Anlass ein neues Kleid gekauft. Die Männer waren ebenfalls tipptopp gekleidet. Manche trugen schwarze Toupets und merkten gar nicht, dass die Las-Vegas-Beleuchtung den Unterschied zwischen dem kümmerlichen Rest an Echthaar und der künstlichen Pracht noch erbarmungsloser hervorhob.
Um den religiösen Anlass nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen, schauten die meisten noch kurz in der Kirche vorbei, bevor sie sich zu ihren Freunden unter den Lichtern gesellten. Dazu mussten sie über die Zigeunerin steigen, die im Schneidersitz in der Tür saß. Zwischen den Falten ihres Rocks verbarg sich eine Bettelschale aus Plastik. Ihr Mann befand sich in der Menge und verkaufte Spielzeug, während ihre drei Kinder, von ihrer Körpergröße her alle auf Taschenhöhe, nirgendwo zu sehen waren.
Wir trafen Umberto und fragten ihn nach der Auseinandersetzung wegen der Zigeuner. »Zigeuner?«, rief er über die eigenwillige Interpretation der Blechbläser des Barbier von Sevilla hinweg. »Was interessieren mich die Zigeuner? Ich habe mich über das Bußgeld beschwert, das mir auferlegt wurde, weil ich beim Motorradfahren keinen Helm aufhatte. Und das von einem Mann, der heute an meinem Haus vorbeifuhr und auch keinen aufhatte!« Er tobte vor Wut und verschwand in der Menge, wobei er » ipocrisia! « schrie.
Süditalienische Dörfer brauchen keine Zeitung, weil sich auf der Piazza ohnehin alles herumspricht. Während ich über das Kopfsteinpflaster lief und an den Andranesi in ihren weiten Sommerkleidern vorbeiging, wurde mir anhand dessen, was Daniela über sie wusste, klar, wie viel sie über uns wissen mussten. Nicht einer kam vorbei, über den Daniela keine lustige oder tragische Anekdote erzählte, sobald er außer Hörweite war. Auf einem süditalienischen Dorffest sind die Festbesucher genauso schillernd wie die Festbeleuchtung.
Auf den Kirchenstufen saß ein Schuster und rauchte Pfeife. Er war dafür berühmt, dass er einen Kaufvertrag vor den Augen eines Händlers verschluckt hatte, weil er ihm nicht mehr nachkommen wollte. Vor der Tabaccheria leckte ein Arzt, der Pyromane war, an seinem Eis. Nachdem er mehrere Müllautos angesteckt hatte, war ihm die
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