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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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hätte bleiben dürfen.
    Im Ort Depressa, der nach seiner Lage in einem tiefen Tal und nicht nach dem psychischen Gesundheitszustand seiner Einwohner benannt war, gingen wir zur Sagra della Pasta Fatta in Casa – zum Fest der selbst gemachten Nudeln. Sie schmeckten teigig und langweilig, und ich schockierte Daniela und sämtliche Puristen in Hörweite, indem ich gestand, dass ich Barilla-Nudeln aus der Packung bevorzuge. Daniela hatte sich mit einem Banausen eingelassen.
    Bei einer solchen Gastronomietour schleifte mich Daniela von einem Fest zum nächsten: Es gab das Olivenfestival in Torre dell’Orso, das Fischfestival in La Marina di Torre Vado, das Auberginenfestival in Collemento, das Pferdefleischfestival in Seclì, das Schneckenfestival in Cannole und das Pizzafestival in einem Ort, dessen Namen ich längst vergessen habe, aber in dem mehrere Küchenchefbrigaden eine Pizza backten, die fast so groß war wie seine Piazza. Mein Lieblingsfestival war die Sagra delle Cozze in Castro, wo ich zwei Teller Spaghetti mit Miesmuscheln in Weißweinsauce verputzte, gefolgt von mehreren Bechern Pfirsich- und Zitroneneis. Im Vergleich dazu war Daniela richtig spartanisch. Ihr Lieblingsfestival war die Sagra della Frisella in Specchia Gallone, wo sich einen Abend lang alles um trockenes Weizenbrot mit Tomaten, Olivenöl, Salz, Ruccola und Oregano dreht. Daniela liebt die unzähligen Variationen von Grundnahrungsmitteln wie Brot. Zweifellos ein Erbe aus schlechten Zeiten, als solche Grundnahrungsmittel alles waren, was die Menschen besaßen. Selbst in den feinsten Restaurants füllt sie ihren Magen mit Brot, lange bevor die Vorspeise kommt. Keine Ahnung, warum ich sie überhaupt dahin ausführe.
    Die auf den verschiedenen Sagre angefressenen Pfunde wurden wir auf der bizarren Festa del Ballo wieder los, einem fünfzehntägigen Tanzmarathon, der in der Stadt Melpignano in der Notte della Tarantola – der Tarantellanacht – seinen Höhepunkt findet. Indem sie ein wildes sinnliches Gezappel namens Tarantola aufführen, imitieren die Tänzer Opfer einer heute als psychosomatisch geltenden Erkrankung, die über tausend Jahre alt ist. Solche Fälle sind in ganz Süditalien dokumentiert, aber die Krankheit grassierte vor allem in Apulien. Dort ist auch die Stadt Taranto beheimatet, von der die Tarantelspinne ihren Namen hat.
    Der Glaube, dass der Biss einer Tarantel das Opfer bzw. den sogenannten Tarantato zum Sklaven der riesigen Spinne macht, war weithin verbreitet. Der Tarantato begann zu zittern, sobald sich die Tarantel bewegte oder paarte, und lockte damit Musiker mit Violinen und Tamburinen an. Die spielten dann, was als Pizzica – als »Kneifen« oder »Beißen« – der Tarantel bekannt wurde. Eine Art Musiktherapie, die half, die voodooartigen Qualen zu vertreiben. Die Opfer flehten die Musiker an, immer schneller zu spielen und sich immer mehr zusammenzudrängen, damit die Schwingungen der Instrumente den Schmerz des Bisses linderten und die Blutgerinnung beschleunigten.
    Der Tarantato vollführte zuckende, rhythmisch wiederkehrende Bewegungen, die langsam begannen und sich dann zu einer tranceartigen Ekstase steigerten. Die Menschen tanzten Tage hintereinander und sollen dabei Spinnenkräfte angenommen haben. Ein Tarantato , ein ansonsten erschöpfter Achtzigjähriger, soll drei Tage lang getanzt und auf das Dach seiner Kirche geklettert sein, während eine Frau unter die vier Beine eines Holzstuhls getanzt sein soll, wo sie zitternd und mit verdrehten Gliedmaßen mehrere unangenehme Stunden ausharrte.
    Die Wissenschaft hat einige verbürgte Fälle von Tarantismo nachweisen können. Überzeugender ist jedoch eine alternative Theorie. Sie entstand, als man entdeckte, dass die meisten Opfer Frauen waren. Aufgrund ihrer sozialen und sexuellen Unterdrückung sollen sie ihren befreienden, erotischen Tanz, der unter normalen Umständen inakzeptabel gewesen wäre, mit dem Biss einer Spinne gerechtfertigt haben. Der erlaubte ein wollüstiges Ausbrechen aus jeder Etikette – angefangen vom Striptease in der Öffentlichkeit bis hin zu blasphemischen Flüchen in der Kirche.
    Trotz ihres psychosomatischen Stigmas gibt es die Krankheit heute noch. In der Stadt Galatina, 30 Kilometer nördlich von Andrano, versammeln sich jedes Jahr am 29. Juni jene Tarantati , die darauf bestehen, von einer Spinne besessen zu sein. In der Kirche von San Paolo bitten sie dann den Schutzheiligen der Tarantati um Erlösung. Wie mir erzählt wurde,

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