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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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dem heruntergekommenen Viertel vor seinem Gartentor. Die Straße war vermüllt, und ein fast verhungerter Hund streunte darauf herum. Würde man ein Röntgenbild von süditalienischen Dörfern machen, um all den Prunk und Protz in den Häusern an jenen verwahrlosten Straßen zu sehen, begriffe man die Einstellung der Italiener dem Gemeinwesen gegenüber sofort. »Die Straße gehört schließlich niemandem«, sagen sie.
    Dr. Nino, der ziemlich groß für einen Italiener war, erzählte den Witz mit dem Känguru noch einmal. Nur für den Fall, dass Daniela ihn nicht weitererzählt hatte. Dann verabreichte er mir eine Medizin, fast eine ganze Flasche seines selbst gemachten Limoncellos – purer Alkohol mit einem Hauch Zitrone. Wahrscheinlich nur, damit mich sein exzentrisches Elixier im Krankheitsfall umbrachte oder mich kurierte. »Nino hat ihn mit Zitronen aus unserem Garten selbst gemacht«, sagte seine Frau stolz, die Nagellackentferner beigesteuert zu haben schien.
    Nachdem ich ihre Medizin genommen hatte, unterhielt ich mich mit ihrem Papagei, der zu meinem Entsetzen und ihrer Freude besser Italienisch sprach als ich.
    Dr. Nino bekam einen Bumerang. Und ich Kopfschmerzen. Nachdem ich einen Monat lang auf herrenlosen Straßen unterwegs gewesen war, besaß Andrano seinen ersten australischen Einwohner – Crristoper Arrison mit H am Anfang. Und auch wenn ich meinen neuen Status mittlerweile mit Dutzenden von documenti nachweisen konnte, drückte sich meine wahre Zugehörigkeit zu Andrano darin aus, dass ich das Fünf-Uhr-Angelusläuten der Kirchenglocken auswendig mitsummen konnte. Sollten mich die carabinieri jemals aus dem Verkehr winken und ich hätte meine Papiere vergessen, könnte ich sie damit vielleicht sogar beeindrucken. Und wenn nicht, würde ich ihnen eben eine andere Liebesgeschichte erzählen.

6
     
    Feste und Begräbnisse
     
    W enn die Glocke in der Silvesternacht zwölf Mal schlägt, quetschen sich die Andranesi für einen göttlichen Start ins neue Jahr in die Chiesa di Sant’Andrea. Dort bekommen sie vom achtzigjährigen Priester ihrer Stadt die jährliche Dorfstatistik mit sämtlichen Geburten, Todesfällen und Hochzeiten zu hören. Doch in den letzten Jahren musste Don Francesco bestätigen, was eine schwindende Schar von Gläubigen ohnehin wusste, nämlich dass Andranos Geistliche mehr beerdigen als taufen.
    Auch wir würden bald von hier weggehen, wenn auch nicht für immer. In einem süditalienischen Fischerdorf gibt es nicht viel Arbeit für Italiener, geschweige denn für einen Australier. Deshalb würden Daniela und ich im September nach Mailand ziehen, um dort zu arbeiten. Ich hatte einen Job als Texter in der Werbeagentur ihres Bruders, während sie eine Versetzung an eine innerstädtische Grundschule organisiert hatte. Mit Ende des Schuljahres hatte Daniela jene scuola elementare verlassen, an der ihre Lehrerinnenlaufbahn vor neun Jahren begonnen hatte. Um seine Tränen über die traurige Nachricht zu rechtfertigen, sprach ein Achtjähriger für die ganze Klasse, als er sagte: »Wir sind keine Roboter. Wir haben schließlich auch ein Herz.«
    Abgesehen von einer kurzen Reise nach Sizilien, um Danielas Familie kennenzulernen, blieben uns immer noch die ersten Augustwochen, um die skurrilen Besonderheiten eines Orts zu genießen, den ich nur ungern schon so bald verließ. Ich hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können, um Andrano und seine Umgebung zu erkunden, denn in der offiziellen Ferienzeit geht es im Salento trotz der heftigen Temperaturen richtig hoch her.
    Der August im Absatz des italienischen Stiefels ist ein Marathon an Festivals, mit denen Orte wie Andrano ihrer Geschichte Respekt zollen. Jeden Abend kann man in einen anderen Ort fahren, wo die Einwohner ihren Schutzheiligen ebenso huldigen wie ihren Lieblingsspeisen – und mehr braucht man nicht zum Überleben. Wenn ich die Wahl zwischen einer sagra – einem Volksfest rund ums Essen – und einer festa patronale – einem religiösen Fest – hatte, stimmte ich zu Danielas Erleichterung regelmäßig mit dem Magen ab.
    Im Fischerdorf Porto Badisco rächte ich mich bei der Sagra del Riccio di Mare an dem Seeigel, der meinen Fuß zerstochen hatte. Bewaffnet mit speziellen Messern, die sie gegen die Stacheln schützen, boten Fischer die scheuen Mollusken feil und servierten sie mit selbst gemachtem Brot und Wein. Die Rache schmeckte süß, viel süßer als das Krustentier, das von mir aus gut und gern am Meeresboden

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