Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
vergessene Gegenstände zu holen. Während die übrigen Andranesi also zu ihrem sommerlichen Exodus aufbrachen, ohne je in den zweiten Gang schalten zu müssen, trat Danielas Familie ihre 900 Kilometer weite Reise zu einem Hanggrundstück unweit von Valerias Heimatstadt Alcamo an. Dort wurde sie schon sehnsüchtig von unzähligen Tanten, Onkeln, Cousinen, Freunden und dem malerischen Golf von Castellammare erwartet.
Auf diesem Hang befinden sich mehrere Ferienhäuser, die Valeria und ihre beiden Schwestern benutzen. Letztere wohnen den Rest des Jahres über mit ihren Familien in Wohnungen, die nur wenige Kilometer weit weg liegen. Zu Francos diebischer Freude verbringen sie den größten Teil ihrer Sommerferien damit, zwischen ihren Besitztümern hin und her zu fahren, um das zu holen, was sie vergessen haben.
Eine gute Freundin von Valeria lebt in einer kleinen Ortschaft am Golf von Taranto, die praktischerweise auf dem Weg zwischen Andrano und Alcamo liegt. Dort vorbeizufahren, ohne sie zu besuchen, wäre eine Beleidigung und vollkommen unitalienisch. Als wir von der Hauptstraße abbogen und auf die Hupe drückten, versammelte sich ein Dutzend Leute auf dem Bürgersteig vor einem dreistöckigen Haus. Der Jüngste war fünf und der Älteste 85. Daniela hatte nur eine kurze Erfrischungspause einlegen wollen, aber da vierundzwanzig Wangen, und aufgrund ihres Drängens auch der Mund dazwischen, geküsst werden mussten, blieben wir über Nacht.
Drei Generationen lebten unter einem Dach, auf jedem Stockwerk eine. Die Kinder oben, die Eltern in der Mitte und die Großeltern im Erdgeschoss. Das weiße Gebäude war eine Art Flussdiagramm. Mit der Zeit arbeiteten sich seine Bewohner nach unten vor, bis eine Generation unter die Erde wanderte und die Nächste oben einzog. Der Garten war so fruchtbar wie die Familie, die ihn bestellte. Aprikosen fielen neben dem Haus zu Boden, und dahinter wuchsen Birnen. Zwischen den Bäumen gab es Kinderspielzeug und ein Dutzend frei laufende Hühner. Hier war man glücklich, laut und stets beschäftigt – ein Süditalien wie aus dem Bilderbuch.
Als wir uns am nächsten Morgen Kalabrien und der Spitze des italienischen Stiefels näherten, fuhren wir auf die Autostrada del Sole – jene Sonnenautobahn, die für ihren sommerlichen Verkehr berühmt und für ihre sommerlichen Unfälle berüchtigt ist. Eine Abfolge von langen Tunneln und hohen Brücken durchzieht eine alpine Landschaft, die man eher in Österreich statt in Süditalien erwarten würde und die den Fahrern, die sich mental bereits im Urlaub befinden, einiges an Konzentration abverlangt.
Die 3,6 Kilometer breite Straße von Messina, die Sizilien vom italienischen Festland trennt, wird per Autofähre überwunden. Politiker diskutierten den Bau einer Hängebrücke, aber der Preis in Lire war länger als die Brücke. Wir standen eine Stunde in der Schlange, bevor wir an Bord eines turmhohen Schiffes gingen, das sogar Züge über ein Meer befördert, das bei schlechtem Wetter ziemlich wild werden kann. Der Legende nach sollen zwei Meeresungeheuer, Cariddi auf der sizilianischen Seite und Scilla auf der kalabresischen, für die vielen Ertrunkenen in diesen Fluten verantwortlich sein, darunter auch für einige von Odysseus’ Weggefährten, die hier auf der Odyssee ertranken.
Obwohl Sizilien von Wasser umgeben ist, ist der erste und letzte Eindruck der von verzweifeltem Durst. Näher an Afrika als an Rom gelegen, befindet es sich vor der Spitze eines Stiefels, der es in jenen Wüstenkontinent zurückzukicken scheint, von dem es sich vor Millionen Jahren gelöst hat. Wasser ist knapp auf dieser sonnenverdorrten Insel. Die einzige natürliche Flüssigkeit, die Sizilien – neben Wein und Blutorangensaft – noch in großen Mengen zu produzieren vermag, ist die brennende Lava des Berges Ätna. Vom Hafen Messinas fuhren wir auf dem Weg nach Catania an dem 3000 Meter hohen Vulkan vorbei, bevor wir uns auf den Weg in das Herz der Insel machten.
Alcamo liegt nicht weit von Siziliens Westküste entfernt. Daniela hatte beschlossen, die Insel zu durchqueren und die Inlandsroute zu nehmen, die sie im Vergleich zur Küstenstraße als »stressig, aber sicher« beschrieb. Ohne eine Meeresbrise, die den Motor kühlen könnte, überhitzte sich Napoleon genauso oft wie wir. Fünfundvierzig Grad im Schatten und keine Klimaanlage! Der Asphalt schmolz genauso wie unsere Reifen. Es war Mittagszeit, und die Straße lag verlassen da. Überall durstige
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