Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
Reiseführern steht: Nämlich dass allein an diesem Wochenende fünfundsiebzig Menschen im Straßenverkehr gestorben waren. Dass Italiens vierundfünfzigste Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg in der Werbepause aufgelöst worden war. Dass wieder einmal ein Junge in Neapel umgebracht worden war, weil er seine Vespa gegen Diebe verteidigt hatte. Und dass die Mafia erneut gemordet hatte – sei es nun die sizilianische, die kalabresische oder die neapolitanische. Dass Fußballspiele manipuliert, Richter bestochen, Universitätsabschlüsse verkauft worden waren und man den Premierminister zum x-ten Mal der Korruption angeklagt hatte. Und so weiter und so fort – einem wurde ganz schwindlig davon.
In Italien ist das Wort »Regierung« nur ein anderes Wort für »Korruption«. Das ist so wie mit Eiscreme und Sommer – beides gehört zusammen. Deshalb hat die Bevölkerung genauso viel Respekt vor ihren Politikern wie die Politiker vor der Bevölkerung haben. Es herrscht nichts als gegenseitige Verachtung, und einer drückt beim anderen ein Auge zu. Daniela interessiert sich nur dann für Politik, wenn sie einen Tag frei bekommt, weil wieder einmal die Regierung zusammengebrochen ist und ihre Schule als Wahllokal benutzt wird, um eine neue zu wählen.
Ihre Gleichgültigkeit in politischen Dingen mag unverantwortlich klingen. Aber wenn man so oft an die Wahlurne muss wie aufs Klo, nur um Abgeordnete zu wählen, die beschuldigt werden, Mörder zu sein, mit der Mafia zusammenzuarbeiten und jedes Gesetz zu missachten, das sie eigentlich verteidigen sollten, erscheint einem dieser Zynismus gerechtfertigt und ist allenfalls eine Art Selbstschutz.
Doch jetzt kommt das Paradox: Nur, indem sie Italiens Unvollkommenheiten ignorierten, konnten die Italiener ihr Leben vervollkommnen. Indem sie über die Schwächen ihrer Nation hinwegsehen, finden sie ihre Stärke – den Eskapismus, einen fröhlichen Eskapismus, der alles Elend Lügen zu strafen scheint. Der Film Das Leben ist schön verwandelt den Holocaust in ein Märchen. Benigni tanzt in seinen Tod und spielt bei dem Versuch, seine Lieben aus einem schonungslosen statt schönen Leben zu erretten, den Narren. Sein gezwungenes Lächeln maskiert ein tragisches Schicksal. Somit ist er die Verkörperung von Barzinis Behauptung, dass es noch nie einen Menschenschlag gegeben habe, der so elend und verzweifelt sei wie diese fröhlichen Italiener.
Einer der führenden Gesellschaftskommentatoren Italiens, Beppe Severgnini, führt die italienische Fähigkeit, jeden Skandal zu ignorieren, auf ein Konzept namens The Terrazzo Law zurück. »Wir können einen noch so furchtbaren Tag gehabt haben, weil uns vielleicht jemand gesagt hat, dass wir höhere Steuern zahlen müssen, weil wieder irgendein Regierungsmitglied mit ein paar Milliarden Lire verschwunden ist, aber wenn wir dann abends mit unseren Freunden al fresco essen, vielleicht auf einem terrazzo unter einem sternenklaren Himmel, verfliegt unsere Bitterkeit sofort. Das ist das Terrazzo Law . Wenn wir in Italien englisches Wetter hätten, hätten unsere Politiker schon längst ein schlimmes Ende genommen.«
Eine Fernsehsendung zeigte einmal sehr anschaulich, wie blind die Italiener ernsten Themen gegenüber sind, und zwar noch drastischer als Severgnini. Der apulische Regionalsender filmte eine nackte Frau, die neben einem Journalisten stand, der von einem Pult aus laut etwas vortrug. Eine vollkommen sexistische Szene, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass ich der Einzige in ganz Italien war, dem das auffiel.
»Die Arbeitslosenquote in Apulien ist dramatisch gestiegen. Macht Ihnen das was aus? Die staatliche Krankenhausfinanzierung wurde im letzten halben Jahr drastisch gekürzt. Macht Ihnen das Sorgen? Die EU hat neue Gesetze verabschiedet, die den Export apulischer Spezialitäten erheblich erschweren. Das kann uns viele Jobs kosten. Hört irgendjemand zu? Nein, natürlich nicht!« Er hatte angefangen zu schreien. »Sie sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, auf ihre Titten zu starren, als sich mit den Problemen in Ihrer Region zu beschäftigen. Und selbst diejenigen, die Macht haben und etwas dagegen unternehmen könnten, starren ebenfalls hin. Deshalb muss ich Sie heute Abend alle erschießen. Weil Sie nicht ein Wort von dem gehört haben, was ich gerade gesagt habe!«
Der einzige Unterschied zwischen dieser Regionalsendung und den meisten nationalen Sendungen war der Mann mit dem politischen Gewissen, denn Brüste werden
Weitere Kostenlose Bücher