Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
Das waren verschiedene Welten, die durch ein Seil getrennt waren, auf dem ich gerade balancierte und mich verzweifelt fragte, wohin mein Weg führen sollte.
Im Großen und Ganzen war ich begeistert, zurück in England zu sein. Ich sprach wieder so, wie mir der Schnabel gewachsen war, und genoss die Ordnung um mich herum. Ich hätte nie gedacht, dass es mich entspannen könnte zu sehen, wie Autofahrer genau einparken oder an einem Zebrastreifen halten. Und ich hätte sämtliche Einkäufer umarmen können, die geduldig im Supermarkt Schlange standen, genauso wie die Fußgänger, die ihren Müll in öffentliche Mülleimer werfen. Ein solch zivilisiertes Verhalten macht den Alltag stressfreier, und ich konnte wieder freier atmen. Ich genoss meinen Nachmittagsspaziergang durchs Viertel. Die Geschäfte hatten den ganzen Tag auf! Und Busse hielten an Haltestellen, anstatt dass ein atemloser vigile ankam und verkündete, die Verkehrsbetriebe würden kurzfristig streiken. Aber die Freude darüber, in meine frühere Welt zurückzukehren, wurde von dem, was ich in der alten Welt zurückgelassen hatte, überschattet. Damit meine ich nicht nur Daniela, sondern jene schwer zu fassende italienische Schönheit, die ich erst zu schätzen lernte, nachdem ich sie verloren hatte.
Noch vor einem Jahr in einem Stau in Lecce, als ein Bauer zwischen den Autos frisch geerntete Karotten verkaufte, hatte Daniela von dem unsichtbaren Charme ihres Landes geschwärmt. Sie hatte erzählt, dass sich selbst Italiener über die offensichtlichen Schwächen Italiens beschweren. Aber wenn sie dann fort sind, beklagen sie den Verlust von etwas, das sie nicht beschreiben können. Damals war ich noch neu in Italien, dem echten Italien mit seinen ständigen Staus und der vielen Korruption. Damals konnte ich mit ihren Worten nichts anfangen. Aus meiner Perspektive wirkte vieles barbarisch und unattraktiv: Italien war ein Ferienparadies, aber wenn man immer dort leben musste, wurde es zur Hölle auf Erden. Doch ein Jahr später setzte ich mich in meinem Bett auf, sah zu, wie der Regen in einen englischen Garten fiel, und musste zugeben, dass Daniela Recht hatte – an diesen Karotten musste doch irgendetwas dran sein. Eine Art Zauber, der mich ein Land lieben ließ, das ich kritisiert hatte, genauso wie die verborgenen Qualitäten marktschreierischer Menschen, deren Nachteile gleichzeitig ihre Vorteile und deren Schwächen auch ihre Stärken waren. Das waren abstrakte Qualitäten, die man schlecht definieren kann – das Rätsel des belpaese . Aber mit einem Fenster ohne serranda war es ein Rätsel, für das ich eine ganze Nacht lang Zeit hatte.
Touristen schwärmen von Italien, weil sie nur mal kurz im Sommer hinfahren und eine vergängliche Schönheit kennenlernen, die funkelnde Fassade einer trostlosen Realität. Sie folgen ihren Reiseführern zu den historischen Highlights einer modernen Messe, stehen Schlange, um Freskos zu sehen und nicht, um die Telefonrechnung zu bezahlen. Sie halten das Leben in Italien für wunderbar, weil die Italiener ihnen das weismachen. Wie heißt es bei Gore Vidal in Vidal in Venice so schön: »… die meisten kommen her, um etwas zu finden, das sie nie gekannt haben. Für den Besucher ist es eine Art Wachtraum. Natürlich träumt kein Venezianer je von Venedig, aber jeder Venezianer arbeitet daran, diesen Traum für andere heraufzubeschwören. Das echte italienische Leben hat nichts mit der Erfahrung des Touristen zu tun. Venezianer fahren nicht mit Gondeln. Viele könnten es sich nicht mal leisten, selbst wenn sie es wollten.«
Auch Hollywoodregisseure haben an diesem Täuschungsmanöver mitgewirkt. Die Verfechter des Klischees siedeln Filme, die in Italien spielen, immer im Sommer an, wenn sich das Leben der gut gebräunten Charaktere nur um Sex und andere Zerstreuungen dreht. So wurde die italienische Riviera zum idealen Setting für Der talentierte Mr. Ripley. Wo sonst kann man sich sonnen, während man an seinem Cinzano nippt, schöne Frauen verführt und das Geld seiner Eltern ausgibt? Selbst wenn sich das italienische Kino ernsterer Themen annimmt, verzerren Filme wie Das Leben ist schön die grausame Realität in einem fast schon obszönen Ausmaß. Aber wen interessiert schon die Realität? Ihr zu entfliehen macht wesentlich mehr Spaß.
Reiseschriftstellern kann man denselben Vorwurf machen. Viele sehen nicht, dass es mehr Frust als Freude bringen kann, in Italien zu leben. Sie sind so dumm zu behaupten,
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