Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
dass eine laxere Auslegung der Regeln ein wesentlich angenehmeres Leben mit sich bringt. In Streifzüge durch das Abendland. Europa für Anfänger und Fortgeschrittene verbringt Bill Bryson den ersten Abend seiner kurzen Italienreise mit einem ausgewanderten Amerikaner, dem nach zwanzig Jahren in diesem Land nichts Positives mehr dazu einfällt. Bryson dagegen war noch vor wenigen Stunden in Rom und versteht die Einwände seines Freundes nicht. Er schwärmt von den Italienern, sagt, er fände es höchst reizvoll, dass sie nicht Schlange stehen, keine Steuern zahlen, nicht pünktlich zu Verabredungen erscheinen, keinen Finger krumm machen, ohne sich bestechen zu lassen, und keinerlei Regeln respektieren.
Ein paar Tage später hat Bryson sowohl die Stadt als auch seine Meinung gewechselt. Genervt von dem rebellischen Leben, beschwert er sich darüber, dass die Florentiner einfach nicht erkannten, dass es in ihrem ureigensten Interesse liege, den Müll wegzuräumen, ein paar Bänke aufzustellen und die Zigeuner zu zwingen, nicht mehr so aufdringlich zu betteln. Warum nur, fragte Bryson, geben sie nicht mehr Geld aus, um die Stadt schöner zu machen? Auf den ersten Blick wirkt die »Was-soll’s-Attitüde«, die in Italien menefreghismo genannt wird, wie eine verlockende Alternative zu einer Gesellschaft mit strengen Regeln. Aber nachdem er viel Zeit damit verbracht hatte, seinen Platz in einer Schlange zu verteidigen, hat Brysons Ordnungsliebe triumphiert. Es dauerte nicht lange, bis es der Amerikaner, der nach Italien kam, um la dolce vita kennenzulernen, kaum erwarten kann, wieder von dort wegzukommen. Und so rennt er los, um noch einen Bus in die ordentliche Schweiz zu bekommen. Als Barzini schrieb, »dass man die italienische Lebensweise nicht als Erfolg bezeichnen kann, es sei denn, man wäre vorübergehender Besucher des Landes«, entging ihm, dass selbst diese nicht immer entzückt sind.
Aber die meisten Touristen glauben der Illusion gern und sind fest von der Echtheit der Fata Morgana, die sie sehen, überzeugt. Verführt von der eleganten Mode, den köstlichen Mahlzeiten, von Kunst und Architektur, kehren sie nur sehr widerwillig in ihr altes Leben zurück. Kopf und Kaminsims sind voller Klischees über dieses farbenfrohe Land, in das sie am liebsten gleich wieder fahren würden. Sie sind verrückt nach Italia und haben sich sogar in die Vespas verliebt, jene impotenten italienischen Ikonen, die um die Piazza brummen. Aus ihrer Sicht muss es Spaß machen, den Wind in den Haaren zu spüren und die Freundin, die einen von hinten umarmt. Was für eine herrliche Art zu leben …
Wen die Touristen in ihren Zimmern mit Aussicht nicht sehen, ist der Mann aus Andrano, den Motorräder wahnsinnig machen. Er hat die Carabinieri schon unzählige Male angerufen, um die Verfolgungsrennen vor seiner Tür anzuzeigen. Jetzt betritt der wütende Selbstjustizler die Straße und schwingt ein Lasso über seinem Kopf. »Ich bring euch um, noch bevor der Sommer vorbei ist«, schreit er und schleudert die Schlinge seinen halbwüchsigen Quälgeistern hinterher. Flüche lassen erahnen, dass er sie verfehlt hat. Anschließend eilt seine Frau aus dem Haus, um ihn zu beruhigen. Das Leben geht weiter und damit auch der Verkehr. Schon wieder heult ein Motor auf, und ein neues Überholmanöver beginnt. Er ringt die Hände und geht ins Haus, zündet sich eine Zigarette an und stellt sich vor, sie sei eine Zündschnur, die zum Benzintank jeder Vespa dieses Landes führt. Währenddessen träumen Touristen in aller Welt von ebendiesem italienischen Albtraum.
Der Sommer ist so etwas wie alljährliche Flitterwochen in einer ansonsten unglücklichen Ehe. Wenn man nicht länger als einen Sommer mit Italienern zusammengelebt hat, kennt man nur ihre Silhouetten. Doch bei näherem Hinsehen entdeckt man so manch unangenehme Überraschung. Und plötzlich ist die übersprudelnde Begeisterung verpufft. Nicht einmal das Eis schmeckt mehr.
Nur wer länger bleibt, stellt fest, dass »das süße Leben« auch ganz schön bitter schmecken kann. Ich war in Italien am glücklichsten, als ich dort noch Tourist war. Ich genoss es so lange, die Nachrichten zu sehen, bis ich begriff, was dort gesagt wurde. Die sexy Ansagerin schien mehr damit beschäftigt zu sein, sich in Pose zu setzen und ihre Frisur in Form zu bringen, als schlechte Nachrichten zu verlesen. Aber je mehr Italienisch ich konnte, desto klarer wurde mir, dass sie mir erzählte, was nicht in den
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