Silber
alles, vielen Dank“, sagte der Priester. Dann begann er, die Liste der Kodizes zu studieren, die Nicholas Simmonds während seiner Zeit in der Bibliothek bearbeitet hatte. Der junge Bibliothekar verschwand schleppenden Schrittes wieder aus dem Garten. Siebenundachtzig Texte waren auf der Liste aufgeführt. Abandonato schürzte die Lippen, als er die Titel schnell überflog. Am Ende der Seite angekommen, schüttelte er den Kopf. „Wie ich schon sagte, er hat an prälateranen und lateranen hebräischen Kodizes gearbeitet. Hier ist nichts aufgeführt, was nicht in sein Fachgebiet gefallen wäre.“ Er drehte das Blatt um und ließ den Blick wieder über die Titel auf der Liste gleiten. Auf halbem Weg fiel ihm etwas ins Auge.
„Nun, das könnte vielleicht etwas sein. Sie haben doch die Sikarier-Zeloten erwähnt, nicht wahr? Dieser Liste nach hat Nicholas an einer Schrift gearbeitet, die gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert ist:
Das Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
. Wenn das der Text ist, den ich meine, dann war er in einem schrecklichen Zustand, als er vor ein paar Jahren hierher gebracht wurde. Das genaue Datum müsste ich nachschlagen, aber ich glaube, er wurde uns überlassen, nachdem man ihn bei einem Erdbeben in Masada, in der Nähe des Toten Meeres entdeckt hatte. Ich müsste meine Kollegen fragen, um es mit Gewissheit sagen zu können. Ich weiß allerdings, dass unsere Restauratoren schon seit geraumer Zeit an der Wiederherstellung dieser Schriftrolle arbeiten.“
„Es war 2004“, sagte Noah, als ein weiteres Teil des Puzzles sanft an seinen Platz glitt. Man hatte Simmonds hierher geschickt, um diese Schrift zu suchen, da war Noah sich absolut sicher. Es war die einzig logische Erklärung. Das
Zeugnis
war damals bei der Ausgrabung von Masada gefunden worden. Jetzt wollte Mabus es wiederhaben. Was konnte nur darin stehen, das so viele Menschenleben aufwiegen sollte? „Sie sagten, diese Schriftrolle sei aus mehreren Gründen bemerkenswert?“
„In der Tat. Normalerweise würde ich sagen, dass solch ein Fund in erster Linie von historischer Bedeutung ist. Jedes Dokument dieser Zeit hilft uns dabei, uns ein besseres Bild der damaligen Welt machen zu können. Wir dürfen nicht vergessen, dass selbst die gebildetsten Männer dieser Zeit ihre Gedanken nur äußerst selten schriftlich festgehalten haben. Über Gedanken unterhielt man sich, man führte sie im Stillen weiter fort, aber man brachte sie nicht zu Papier. Das Wissen wurde vom Vater zum Sohn weitergegeben, in Gleichnissen und Geschichten. Natürlich ist jeder Fund, der zu unserem Verständnis der damaligen Zeit beiträgt, wertvoll. Aber eine Entdeckung wie diese wirft nicht nur ein bisschen Licht auf die Geschehnisse in den letzten Tagen dieses Assassinen-Kultes – obwohl schon diese Information ein äußerst wertvolles Geschenk an unsere Generation ist. Nein, dieser Text ist so bedeutend, weil er von Menachem ben Ja’ir selbst verfasst wurde. Was ist so Besonderes an diesem Menachem?“, fragte Abandonato rhetorisch.
„Ich erkläre es Ihnen. Menachem ben Ja’ir ist zum einen ein bedeutender Mann, weil er der Anführer der Sikarier-Zeloten war – und zum anderen, weil er der Enkel von Judas Iskariot war. Sagen Sie mir, wer würde nicht gerne wissen, was die letzten Gedanken dieses Mannes waren? Wer würde nicht gerne seine Geheimnisse erfahren, und alles andere, was ihm wichtig genug erschien, um es für die Nachwelt festzuhalten? Ich für meinen Teil fände das ausgesprochen interessant.“
Noah dachte über die Worte des Monsignore nach, während er ihm zurück durch das Labyrinth aus lichtdurchströmten Korridoren zu der Tür folgte, hinter der sich wieder römisches Stadtgebiet befand.
„Was glauben Sie, was steht in diesem Zeugnis des Menachem?“, fragte Noah.
Abandonato schüttelte den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich würde mir keine allzu große Weisheiten daraus erhoffen – er war ein Mörder, und seine Zeloten waren nur wenig besser als Terroristen. Wobei sie sich selbst wahrscheinlich als Freiheitskämpfer bezeichnet hätten, ähnlich wie die IRA, nicht wahr?“
Noah konnte den Vergleich nachvollziehen. Die Absicht, Judäa für die Juden zu erobern, unterschied sich nur geringfügig vom Ziel der IRA, Nordirland für die Iren zu beanspruchen. Allerdings hatten sie Autobomben gelegt, die in Bishopsgate, Warrington und bei Canary Wharf detoniert waren und mehrere Menschen – allesamt normale und anständige Leute
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