Silber
– das Leben gekostet hatten. Deshalb fiel es Noah schwer, von den Mitgliedern der IRA als „Freiheitskämpfer“ zu sprechen.
Er machte eine unverbindliche Geste mit der Hand.
„Vielleicht enthält das Zeugnis ja nur eine Aufstellung von Menachems Glaubensgrundsätzen. Vielleicht hat er darauf gehofft, dass jemand mit seinen Aufzeichnungen den gerechten Kampf für ein freies Judäa wieder aufnehmen würde?“, sagte Abandonato.
Diese Vermutung ergab durchaus Sinn, aber Noah wusste nicht, ob er dem Priester glauben sollte, dass er den Inhalt der Schriftrolle tatsächlich nicht kannte. Eine gesunde Skepsis war nie fehl am Platz; man musste nur aufpassen, dass sie nicht irgendwann zum Verfolgungswahn ausartete.
„Dann ist damit also kein neues Evangelium gefunden worden?“
„In einer Hinsicht vielleicht schon. Der Begriff Evangelium stammt von dem griechischen Wort
eu-angelion
ab, was wörtlich so viel wie ‚frohe Kunde‘ bedeutet. In dem Sinn, den Sie meinen, sind die Evangelien die vier kanonischen Schriften nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, sowie einige außerbiblische Evangelien, die im zweiten Jahrhundert nach Christus verfasst wurden. Diese Evangelien beinhalten die ‚frohe Kunde‘ über Jesus, den Gesalbten. Sie sind als miteinander verwobene Erzählungen strukturiert, die sich alle auf das
kerygma
konzentrieren, die Verkündigung, und den
Sitz im Leben
. Was hat die Verfasser dieser Evangelien dazu veranlasst, ihre Worte schriftlich festzuhalten? Die ursprüngliche Motivation der Autoren ist bei den Evangelien von fundamentaler Bedeutung“, erklärte Abandonato.
Noah konnte sich noch schwach an die allgemeine Aufregung erinnern, die der Fund des Judasevangeliums vor einigen Jahren ausgelöst hatte. In seinem eigenen Evangelium war Judas Iskariot, wie in der Bibel auch, ein Verräter, aber er war dabei gleichzeitig der Schmied seines eigenen Schicksals. Dieser Aspekt der Geschichte hatte die Phantasie der Menschen auf der ganzen Welt beflügelt. Judas hatte sich vom schändlichsten Verräter der Geschichte plötzlich zum treuen und glaubensstarken Gefährten gewandelt – zu dem einzigen Menschen, dem man die Aufgabe anvertrauen konnte, das große Opfer zu erbringen.
Bei den anderen, so genannten gnostischen Evangelien verhielt es sich ähnlich. Sie ließen die altbekannten Geschichten in einem neuen Licht erscheinen. Im Thomasevangelium stand, dass man keine Tempel braucht, um Gott anzubeten, weil Er unter jedem Stein und in jedem kleinen Zweig wohnt. Gott wohnt im Detail. Gott wohnt in den alltäglichen Dingen des Lebens. Er ist das Wesen der Göttlichen Schöpfung selbst, und in ihr will Er angebetet werden, nicht in Kirchen aus Stein.
Es war so, wie Abandonato es gesagt hatte: Schon behutsame Änderungen an der Übersetzung eines existierenden Textes, oder eine behutsame Veränderung der Bedeutung eines „neuen“ Textes konnten welterschütternde Konsequenzen haben.
Wollte die Katholische Kirche denn wirklich einen mitfühlenden und treuen Judas?
War es nicht einfacher, ihn als Verräter abzustempeln, der nur von Habgier, Eifersucht und den anderen üblichen Sünden getrieben war?
Aus der Wiederauferstehung und den anderen Wundertaten Christi hatten sich die Grundgedanken des christlichen Glaubens entwickelt. Hatte der Märtyrertod von Judas einen Einfluss auf die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse? Noah war zwar kein Theologe, konnte sich aber gut vorstellen, dass diese Überlegung zutraf. Es war nur eine kleine und behutsame Veränderung der bekannten Geschichte, aber nichtsdestotrotz war es eine Veränderung. Die nächste Frage lautete folglich: Waren die Folgen dieser Veränderung in der Geschichte schwerwiegend genug, dass der Vatikan beschloss, dieses Wissen niemals zu offenbaren?
Noah wollte fast davon ausgehen, dass das der Fall war. Aber aus welchem Grund hatte Abandonato ihm dann überhaupt etwas über das
Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
erzählt? Er hätte einfach für sich behalten können, dass Nick Simmonds je mit diesem Text in Berührung gekommen war. Immerhin war es deutlich einfacher, etwas zu verstecken, von dem gar niemand wusste, dass es überhaupt existierte.
Doch Abandonato hatte dieses Thema sogar selbst angeschnitten. Er war darauf gekommen, als er von den Vermutungen erzählt hatte, das Dritte Geheimnis von Fátima sei vor seiner Veröffentlichung manipuliert worden. War der Verdacht denn so abwegig, dass die Kirche das tatsächlich getan haben
Weitere Kostenlose Bücher