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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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gerade Zeuge geworden waren. Das Blutvergießen hatte die heilige Unantastbarkeit des Platzes zunichte gemacht. Zwei weitere Schweizergardisten verließen ihre Posten und rannten über den Platz auf ihn zu. Er sah noch mehr von ihnen, die sich hektisch durch die Masse schoben und sich mit Gesten zu verstehen gaben, alle Ausgänge des Platzes zu sperren. Hinter Noah stand Abandonato, wie vom Donner gerührt. Sein Gesicht war verzerrt von ungläubigem Entsetzen. Was er hier sah, passte nicht in sein Weltbild. Dieser Wahnsinn lag außerhalb des Fassungsvermögens des heiligen Mannes. Noah hingegen war in dieser Welt zu Hause.
    Er fand eine Brieftasche und warf einen schnellen Blick auf ihren Inhalt. Sie enthielt weder einen Führerschein, noch Kreditkarten, Einkaufsgutscheine oder auch nur einen Videothekenausweis – kurz: nichts, womit man den Mann hätte identifizieren können. Es befand sich nur ein einzelnes, gefaltetes Blatt Papier darin. Er zog es vorsichtig heraus und klappte es auf. Zwei kurze Zeilen standen darauf:
Wir haben euren Glauben auf die Probe gestellt. Heute werden wir ihn brechen
.
    Er stand auf und sah sich langsam auf dem Platz um, seine Augen wanderten wieder von Gesicht zu Gesicht. Er wusste nicht, wonach er suchte, aber er betete zur Hölle, dass er es erkannte, wenn er es sah. Entsetzen? Angst? Schock? Er kaute auf seiner Unterlippe. Er hatte drei- oder viertausend Verdächtige, und sie standen mit großen Augen um ihn herum wie kleine, verlorene Schafe.
    Dann sah er eine einzelne Gestalt auf der Mitte des Platzes, die an den Stillen Zeugen gelehnt stand. Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment lang, und der Mann hob lächelnd die Hand zum Gruß. Die Geste war so hämisch, dass sie schon fast hasserfüllt wirkte. Der Mann trug Jeans, weiße Turnschuhe, ein graues T-Shirt und einen blauen Kapuzenpullover; mit seinen kurz geschnittenen dunklen Haaren und dem Dreitagebart hatte er nichts Auffälliges an sich. Er wollte, dass Noah ihn sah. Er stieß sich von dem Obelisken ab. Er war gut gebaut und muskulös. Der graue Stoff seines T-Shirts spannte sich über gut trainierte Brustmuskeln und Bizepse. Wahrscheinlich ein ehemaliger Soldat, dachte Noah, der seine Bewegungen beobachtete. Der Verdacht wurde durch das spöttische Salutieren bestätigt. Der Mann drehte sich um und ging auf den dichtesten Teil der Menschenmenge zu.
    „Verständigen Sie Neri“, rief Noah über die Schulter, als er sich an die Verfolgung des Mannes machte. Er wusste, dass es eine Falle war, aber so, wie die Dinge lagen, blieb ihm keine andere Wahl. Er hatte nicht vor, den bunten Kaspern der Schweizergarde die Jagd auf den Mann zu überlassen, und noch weniger war er bereit dazu, ihn einfach in der Menge verschwinden zu lassen. Wenn es notwendig war, dem Mann in einen Hinterhalt zu folgen, dann würde Noah genau das tun. „Richten Sie ihm aus, dass ich dabei bin, mich um Kopf und Kragen zu bringen!“

22
DIE GEBURT DER WAHRHEIT
    Die Fahrt im ICE von Berlin nach Konstanz dauerte sechs Stunden.
    Konstantin Khavin hatte sich auf dem letzten Fensterplatz im Ruheabteil niedergelassen. Direkt hinter ihm lag die Wand der Toilette, das hieß, dass niemand hinter ihm sitzen konnte, er selbst aber sofort sehen konnte, wenn jemand auf ihn zukam. Diese Platzwahl war eine alte und fest eingeschliffene Angewohnheit von ihm. Er hatte keine Lust auf störende Geräusche. Er hatte keine Lust auf Leute, die sich ungeheuer wichtig vorkamen und während der ganzen Fahrt mit dem Handy telefonierten. Er hatte keine Lust auf Kinder, die ihn mit ihren piepsenden und zirpenden Computerspielen in den Wahnsinn trieben. Und am allerwenigsten Lust hatte er darauf, dass sich jemand neben ihn setzte und ihn sechs Stunden lang vollquatschte. Er wollte mit seinen Gedanken allein sein und dabei entweder durch das Fenster die draußen vorbeirollende Welt betrachten, oder die Augen schließen und so tun, als ob er schlafen würde.
    In dem Abteil war es drei Grad kühler als draußen, eine Klimaanlage aus deutscher Wertarbeit hielt die Temperatur bei konstanten zwanzig Grad. Die Luft war leblos, sie wurde in den Waggon gepumpt, wie es sonst in der Passagierkabine eines Flugzeugs üblich war.
    Konstantin atmete tief ein und ließ die maschinell aufbereitete Luft langsam durch seine Nase entweichen.
    Lethe hatte ihn vor einer Stunde auf den neuesten Stand gebracht. Er hatte ihm über alles berichtet, was die anderen Mitglieder des Teams herausgefunden

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