Silber
Samum, und schon war eine übernatürliche Gewalt geboren.
Er strich sich über die Stoppeln seines kurzgeschorenen Bartes. Eleasar hatte Recht; der Fluch der Frau machte ihm zu schaffen. Jetzt, da ihre Worte in seinem Kopf waren, fraßen sie sich wie Würmer durch sein Selbstvertrauen. Zweifel keimten in ihm auf.
Er bemerkte, dass kein einziger Vogel am Himmel zu sehen war, als er in die langsam sinkende Sonne starrte. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber der Anblick war selten genug, um ihm aufzufallen. Noch gestern hätte Menachem gesagt, dass er nicht im Geringsten abergläubisch war. Heute konnte er nur denken, was er gestern doch für ein Narr gewesen war.
„Gehe ein Stück mit mir, Bruder“, sagte er und wandte dem Toten Meer und dem leeren Himmel, der sich in der Ferne verlor, den Rücken zu. „Ich habe das Gefühl, dass die heutige Nacht eine Zeit der Wahrheit wird.“
„Du wirst nicht sterben“, sagte Eleasar wieder und schüttelte dabei den Kopf.
„Das werde ich und du selbst auch. Das ist die einzige Gewissheit in diesem Leben“, sagte Menachem mit einem schiefen Lächeln, das seine Augen nicht erreichen konnte.
„Oh, dann bist du jetzt unter die Philosophen gegangen? Als nächstes fragst du mich noch, ob ich mir je Gedanken darüber gemacht habe, ob unser Tun moralisch richtig ist.“ Eleasar schüttelte den Kopf. Obwohl er über zehn Jahre jünger als Menachem war, konnte dieser seinen Vater in jeder Gesichtslinie seines Bruders erkennen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er den alten Mann durch die Augen von Eleasar blicken sah, so beunruhigend ähnlich sahen sie sich.
„Wir können uns den Luxus nicht leisten, uns über die Moral Sorgen zu machen, solange unser Volk in seinem eigenen Land gefangen gehalten wird. Wenn wir sie nicht töten, werden sie uns töten. Das ist der Lauf der Dinge. Bis wir nicht frei sind, bin ich nicht mehr als der Dolch in meiner Hand.“
„Nun, Herr Dolch, warum teilst du deine Wahrheit dann nicht mit mir?“
Er tat es.
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, Menachem ordnete seine Gedanken. Es gab vieles, was er erzählen musste, vieles, das sich wie eine Lüge anhörte, und er musste seinen Bruder überzeugen, ihm zu glauben. Es war das erste Mal, dass Menachem seinen jüngeren Bruder in die Wahrheit über ihren Großvater Judas Iskariot einweihte. Er zeigte ihm die dreißig tyrischen Schekel, die dessen Vermächtnis waren, und er erzählte ihm die wahre Geschichte vom Leid des Gartens. Nach all den Jahren, die er das Geheimnis gewahrt hatte, fühlte es sich für Menachem überraschend gut an, seine Bürde mit jemandem zu teilen, der ihre Bedeutung verstehen konnte.
„Ich möchte, dass du die Münzen bekommst“, beendete er seine Erzählung. „Nimm sie, sie gehören dir.“
Eleasar stützte die Hände auf den Wall und starrte auf die Ebene hinaus.
„Nein“, sagte er schließlich. „Wenn du die Wahrheit sagst, sollten wir diese Münzen nicht länger verstecken. Wir sollten sie dazu verwenden, um Großvater zu ehren.“
„Hast du einen Vorschlag, wie wir das tun sollen?“
Eleasar dachte eine Weile darüber nach. „Wir sind Sikarier, Bruder. Männer des Dolches. Was könnte ein besserer Weg sein, Großvaters Wahrheit zu bewahren, als von dem Geld die beste Klinge der Welt in Auftrag zu geben?“
„Hast du mir denn nicht zugehört? Diese Münzen sind verflucht. Sie können nicht ausgegeben werden. Großvater konnte sie nicht einmal verschenken.“
Eleasar rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Bartstoppeln an seinem Kinn. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Welchen Nutzen hatten Münzen, die man nicht ausgeben konnte? Sie standen noch eine Weile schweigend nebeneinander, bis Eleasar zu grinsen begann. „Ich habe da vielleicht eine Idee“, sagte er. „Man kann die Münzen nicht ausgeben, um einen Messerschmiedemeister damit zu bezahlen. Das heißt aber nicht, dass man nicht aus den Münzen selbst einen Dolch schmieden könnte, nicht wahr?“
„Ein Silberdolch?“ Menachem dachte kurz darüber nach. Diesem Einfall war eine gewisse Wahrhaftigkeit nicht abzusprechen; vor allem, wenn man bedachte, dass diese Münzen – oder vielmehr das, was sie symbolisierten – ein ausschlaggebender Grund für die Entstehung der Sikarier waren. Aus den dreißig Schekeln einen Dolch zu formen erschien ihm durchaus passend. Silber war allerdings ein sehr weiches Metall, eine Klinge daraus würde so gut wie
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