Silber
Welt die Wahrheit kennen.
Bald.
24
DIE KLINGE
Damals – Das Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
Er schlich sich von hinten an den heiligen Mann heran. Die Luft war schwer von Moschus, der den üblen Gestank der Menschen übertünchen sollte. Sonnenstrahlen strömten durch die schmalen Fenster herein und fielen auf den Boden wie Goldmünzen, die man dem gierigsten aller Götter zum Opfer brachte. Jitzchak, der Priester, hatte sich niedergekniet, er saß vor den Altar gebeugt und murmelte seine Andacht im Allerheiligsten des Tempels. Der heilige Mann unterbrach sein Gebet nicht. Er bewegte sich noch näher heran und lauschte auf die flachen Atemzüge von Jitzchak, und den sanften Singsang seines Gebetes. Es lag Hoffnung darin, Liebe, und Stärke. In wenigen Herzschlägen würde an ihrer Stelle nur noch eine leere Stille sein
.
Der Sikarier blieb einen Schritt hinter dem Priester stehen
.
Jitzchak drehte sich um und blickte erschrocken auf, die Hände auf seinem Schoss ineinander gefaltet. „Der Gott, an den du glaubst, ist eine Lüge“, sagte er zu dem heiligen Mann. Es waren die letzten Worte, die der Priester jemals hören würde. Jitzchaks Augen weiteten sich im Fieber der Angst, als der Sikarier in seine Haare griff und ihm den Kopf in den Nacken bog. In einer einzigen fließenden Bewegung schlitzte er dem Priester mit dem Dolch die Kehle auf. Ein Todesröcheln entrang sich Jitzchaks Lippen. Er griff sich an die klaffende Wunde, als versuchte er, die Luft und das Blut wieder zwischen die losen Hautlappen zu pressen. Doch es gab keine Erlösung. Der Sikarier ließ ihn los, und Jitzchak fiel. Er war tot, noch bevor sein Körper auf dem blutüberströmten Boden landete
.
Menachem hatte sein Versprechen nie vergessen. Es brannte in ihm, als die Welt sich weiterdrehte und er zu einem Mann heranwuchs. Es formte alles, woran er glaubte. Es hallte in jeder seiner Handlungen wider, und in jeder Entscheidung, die er traf. In mancherlei Hinsicht war die Wahrheit über seinen Großvater auch zum Kern seines Wesens geworden: Er war ein verbitterter und grüblerischer Einzelgänger. Menachem ben Ja’ir war ein Außenseiter. Er fand Trost in der Einsamkeit. Er hieß niemanden seinen Freund. Er hatte keine Zeit für die ganzen Sekten und ihre neuen Religionen. Es gab davon schon mehr als dreißig in Jerusalem; jeder betete seine eigene Version des Messias an. Doch Menachem betete keine falschen Götter an. Er hatte seinen eigenen Kopf. Er glaubte nur an eine Sache, an eine Wahrheit: sein Land sollte seinem Volk gehören. Er hatte gesehen, wie sein Vater gelitten hatte. Er hatte auf seinem Schoß gesessen und die Geschichten über die Pharisäer gehört, die seine Großmutter bespuckt und als Hure beschimpft hatten, und das nur, weil sie den falschen Mann geliebt hatte.
Dann hatten sie Ja’ir getötet. An diesem Tag war aus dem Jungen der Mann geworden, der zu sein ihm schon immer vorherbestimmt gewesen war.
Menachem ben Ja’ir war ein Sikarier.
Ein Mann des Dolches.
Doch selbst als die Welt einen Mörder aus ihm gemacht hatte, sehnte er sich tief in seinem Inneren noch immer danach, der Junge sein zu können, der im Garten Gethsemani den Lektionen seines Vaters lauschte.
Seine Gedanken rasten. Er blickte auf seine Hände hinunter. Sie waren geformt wie die Schwingen eines Engels, und auch wenn sie rau und vom Leben gehärtet waren, waren sie noch immer schön. Das Blut an ihnen war verschwunden, aber egal, mit wie viel Lauge er sie auch abschrubbte, er konnte damit nicht den bitteren Geruch nach Eisen aus seinem Kopf waschen. Trotzdem wusch er seine Hände ein fünftes Mal. Es war seltsam … normalerweise fiel es ihm nicht schwer, die Gesichter derer zu vergessen, die er getötet hatte. Doch diesmal war es anders. Das Gesicht von Jitzchak Ari hatte sich tief in seine Erinnerung eingebrannt. Er sah es jedes Mal vor sich, wenn er die Augen schloss. Er konnte es nicht aus seinen Gedanken verbannen.
Für Menachem war der Tod kein Fremder, doch es war das erste Mal gewesen, dass er einem Priester das Leben genommen hatte.
Die Ermordung von Jitzchak Ari war keine Frage des Zorns oder des Glaubens gewesen. Das Motiv war ebenso kaltblütig berechnet, wie die Tat begangen worden war. Seine Ermordung hatte einen politischen Hintergrund. Sie war der Eröffnungszug eines langen Spiels des Mordens und des Opferns, dessen funkelnder Preis die Freiheit war. Der Tod des heiligen Mannes diente dazu, die Gläubigen gegen die
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