Silber
Tag sämtliche Permutationen in seinem Kopf durchgegangen – die Anzahl der Sekunden in einer Stunde, die Anzahl der Sekunden, in denen Rom im Licht der Sonne baden würde, und die Anzahl der Sekunden, in denen es alabastergleich unter dem Mond glänzen würde. Er hatte die Schläge seines Herzens gegen den Brustkorb gezählt, in dem Wissen, dass es sich selbst als Uhr genügte. Es spielte keine große Rolle, welcher der Uhren er mehr Bedeutung schenkte, mit beiden fühlte er sich wie Nero mit seiner verdammten Lyra. Doch trotz alledem waren es nur noch fünfundvierzig Minuten, bis aus dem Heute offiziell Morgen wurde, und Rom war noch nicht gefallen.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, ohne dass in seinem Einsatzraum die Hölle losbrach, verspürte er maßlose Erleichterung. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten mit Berichten, Zeugenaussagen und allen anderen Dokumenten aus dem Archiv, die irgendwie zu den Befürchtungen des Engländers passten.
Neri hatte einen ausgeprägten sechsten Sinn dafür, wenn Schwierigkeiten bevorstanden, und der Engländer brachte garantiert Schwierigkeiten. Er kannte diesen Typus Mann. Noah Larkin war vielleicht nicht der Urheber, aber er hatte dennoch die Ausstrahlung eines Mannes, dem der Tod auf dem Fuße folgte. Die Tatsache, dass Neri außer der versiegelten Militärakte von Larkin nichts hatte finden können, und dass alle Anfragen, die er gestellt hatte, gegen eine Steinmauer gelaufen waren, trug zu diesem Gefühl des Unbehagens noch bei.
Die Nachforschungen nach Ogmios hatten ihm genauso wenig Freude bereitet, allerdings hatte er damit auch nicht gerechnet. Ohne Zweifel hatten seine Fragen irgendwo Aufmerksamkeit erregt, und nun stand er wahrscheinlich unter der Beobachtung von Leuten, die sich fragten, warum zum Teufel er sich plötzlich so brennend für Team Ogmios und Noah Larkin interessierte. Das waren die kleinen Freuden in der Welt der Geheimdienste. Und Neri hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er in diese Welt gestolpert war. Er glaubte genauso wenig daran, dass Larkin einem Rettungsteam angehörte, wie er glaubte, dass der Weihnachtsmann ein dicker weißer Mann war, der eine verstörende Ähnlichkeit mit Gott hatte. Neri war ein guter italienischer Junge, er glaubte an das Verbrechen, die Korruption und die Kochkünste seiner Mamma; alles, was darüber hinausging, betrachtete er mit einer gehörigen Portion Skepsis.
Momentan blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als Larkins Aussagen Glauben zu schenken.
Das wiederum bedeutete, dass in den nächsten fünfundvierzig Minuten in Rom Menschen sterben würden.
Er wusste nicht, wo und wie sie zuschlagen würden. Keiner von ihnen wusste es. Zwar hatte er seine Leute damit beauftragt, alle verdächtigen Aktivitäten sofort zu melden – aber woran sollten sie die potentiellen Terroristen erkennen, wenn sie von den unbescholtenen Bürgern durch nichts zu unterscheiden waren? Unglückseligerweise trugen sie nicht das Wort
Dschihadist
in großen Lettern auf die Stirn tätowiert. Sie waren ganz normale Menschen – rein äußerlich zumindest, denn in ihrem Oberstübchen war überhaupt nichts normal. Sie konnten blond und blauäugig sein, oder braungebrannte Italiener mit Fünftagebärten und einem gefährlichen Lächeln; sie konnten auch aussehen wie Studenten oder Geschäftsleute. Sie würden wohl
kaum
wie wandelnde Karikaturen von bin Laden aussehen, die Kaftane trugen und ein irres Funkeln in den Augen hatten.
Er sah wieder auf die Uhr. Dreiundvierzig Minuten. Er wollte glauben, dass nichts passieren würde, dass Noah sich mit seiner Einschätzung der Situation in Rom geirrt hatte. Dominico Neri fand immer wieder neue Dinge über sich selbst heraus. Heute hatte er gelernt, dass er von Natur aus pessimistisch veranlagt war.
Einundvierzig Minuten.
Er nahm einen kleinen Schluck von seinem Kaffee, den er auf dem Tisch hatte kalt werden lassen. Diese Nachlässigkeit war dem Aroma nicht unbedingt zuträglich gewesen.
Vor zwei Stunden war Neri ein Risiko eingegangen. Er hatte einen Gefallen eingefordert und so ein Treffen zwischen Noah Larkin und Monsignore Gianni Abandonato arrangiert. Der Monsignore beaufsichtigte die Restaurationsarbeiten an den heiligen Texten, und er war einer von drei Archivaren, mit denen Nick Simmonds in den Tagen vor seinem Selbstmord zusammengearbeitet hatte. Wenn es jemanden gab, der Auskunft über den Geisteszustand des toten Mannes geben konnte, dann war es Abandonato.
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