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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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Neri stellte den Styroporbecher wieder ab. Er brauchte ein anderes Getränk, um sich den Geschmack des kalten Kaffees aus dem Mund zu spülen. Mit seinem Kugelschreiber kreiste er den Namen Abandonatos auf dem Notizblock ein, der neben dem Telefon lag. Es war ein lateinischer Name, der übersetzt so viel bedeutete wie ‚der Verlassene’ – ein ziemlich eigenartiger Name für einen Mann des Glaubens. Vielleicht zeigte es aber auch, dass der Humor des Heiligen Vaters auch nicht lustiger war als der des gewöhnlichen Mannes.
    Rina Grillo streckte ihren Kopf zur Tür herein. „Das sollten Sie sich ansehen“, sagte sie. Ihm gefiel der angespannte Unterton in ihrer Stimme nicht, vor allem, weil es nur noch neununddreißig Minuten bis Mitternacht und zur Entwarnung waren.
    „Was ist los?“, fragte er und drückte sich aus seinem Stuhl hoch.
    Sie durchschritt den Einsatzraum und reichte ihm eine Akte.
    „Das San Galliano-Krankenhaus hat uns gerade über drei Todesfälle in der letzten Stunde informiert. Die Todesursache könnte nach deren Meinung eine Thallium-Vergiftung sein.“
    „Thallium?“
    „Das Gift für Giftmischer, eine fast schon mythische Substanz. Es wurde in der Renaissance gern verwendet und war insbesondere das Lieblingsgift der Medicis. Es ist kein nettes Gift.“ Sie zuckte mit den Schultern und wirkte beinahe verlegen, weil sie damit angedeutet hatte, dass es so etwas wie ein nettes Gift gab. „Zu den Symptomen gehören Erbrechen, Haarausfall, schwere Sehstörungen und Magenkoliken. Dann wird das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen, und das Opfer leidet bis zum Eintritt des Todes unter starken Halluzinationen.“
    Neri blickte auf die Uhr. Drei Tote waren nicht so schlimm, wenn man bedachte, wie schwer es Berlin gestern getroffen hatte. Mit drei Todesopfern konnte er leben, selbst wenn die Umstände ihres Todes so schrecklich waren, wie Grillo sie eben beschrieben hatte. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da schämte er sich auch schon dafür. Grillos nächster Satz machte es nicht besser, und der brave Katholik in Dominico Neri glaubte sofort, dass er nun von Gott für die kleine Sünde bestraft wurde.
    „Ich habe mir die Patientenaufnahmelisten der anderen Krankenhäuser angesehen. In den Außenbezirken gab es allein in der letzten Stunde fünfhundert weitere Fälle. Offenbar gibt es besonders viele Vergiftungen in Torrenova, Acilia, Rebibbia Primavella und San Lorenzo, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob uns das irgendwie weiterhilft.“
    „Dort können wir mit der Suche beginnen“, sagte Neri, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, und dass es ihnen nur das Gefühl geben würde, nicht untätig zu sein. „Wie kann man in einer Stadt wie Rom ungesehen fünfhundert Menschen vergiften?“, fragte er, mehr sich selbst als Rina Grillo.
    „Mit dem Trinkwasser“, sagte sie. „Das ist die einzig logische Erklärung. Man verseucht das öffentliche Trinkwasser mit irgendeiner Schwermetall-Verbindung, die schon in geringen Dosen tödlich wirkt, und die Leute nehmen es mit dem Wasser auf, sobald es draußen warm wird. Und je mehr sie davon trinken, desto qualvoller sterben sie. Das ist eine ganz böse Geschichte, Neri.“
    Er dachte über die Konsequenzen nach, die Rinas Gedankengang mit sich brachte. Er konnte ihr nicht widersprechen: es war eine böse Geschichte, es war sogar die böseste Geschichte, die ihm jemals untergekommen war. Wie lange war das Wasser schon vergiftet? Wie lange dauerte es, bis sich die Symptome bemerkbar machten? War es möglich, dass die Menschen hier schon vor dem Selbstmord auf dem Petersplatz vergiftet worden waren? Und die schlimmste Frage, die sich aus diesen Überlegungen ergab: Wie viele Menschen hatten von dem vergifteten Wasser getrunken? Wie viele Menschen waren schon tot und wussten es nur noch nicht?
    Er verharrte in der Bewegung, als er automatisch einen weiteren Schluck von dem kalten Kaffee nehmen wollte. Dieser Geschmack war es nicht wert, dafür zu sterben. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie viel Kaffee er innerhalb der letzten Woche getrunken hatte. Wie die meisten seiner Landsleute nahm er das Koffein praktisch intravenös zu sich. Er warf den Styroporbecher in den Mülleimer unter seinem Schreibtisch. Seine Hand zitterte. Neri wusste nicht, ob das zu den Symptomen einer Thallium-Vergiftung gehörte, oder ob es nur ein Nebeneffekt von schlichter Angst war. Er hatte Angst, und zwar nicht nur um seine Stadt. Er hatte vor etwas Angst,

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