Silberband 018 - Hornschrecken
hören, weil ihn die Wand mehr interessierte als alle Kanonen.
Thomas Herzog konnte sich nicht länger mit dem Einzelgänger beschäftigen. Ihre Lage wurde von
Sekunde zu Sekunde bedrohlicher.
»Erste Rakete – ab!« rief er zur Lafette hinüber.
Feuer setzte die Lunte in Brand. Der mit Gas gefüllte Körper schoß zischend auf die
Geschützstellung der Eingeborenen zu. Zwischen den Kanonen platzte die Rakete auseinander.
Wie immer bisher, auch dort das gleiche Bild: Panik, davonrennende Kugelbauchwesen.
Aber die Front der aufgefahrenen Geschütze war gut zweihundert Meter lang. Die Gaswolke
reichte bei Windstille nicht weiter als vierzig Meter.
»Sir, wir bekommen gleich Feuer!« schrie der Mann, der weit vorn lag und die Gegner
beobachtete, seinem Kommandanten zu.
»Rakete zwei und drei – ab!« befahl Herzog.
Wieder schaute er zur schwarzen Wand. Wo war Tyll Leyden geblieben? Er mußte ihn suchen.
Das Zischen der zweiten Rakete lenkte Herzog ab. Eine Sekunde später hob auch die letzte ab.
Eine lange Rauchfahne hinter sich her ziehend, raste sie der Artilleriestellung zu.
Aber was war das?
Wo waren beide Raketen geblieben? Warum schrien die Männer?
Und dann schrie auch Oberstleutnant Thomas Herzog.
Er sah etwas, das er nicht glauben konnte.
Alle hielten den Atem an. Entsetzen lag in ihrem Blick, dann Fassungslosigkeit, und dann
stöhnte einer: »Nein, das kann nicht wahr sein.«
Überall war die schwarze Wand kalt, obwohl sie im vollen Licht der Sonne lag.
Überall war sie glatt, aber dort, wo Tyll Leyden jetzt stand, fühlte sie sich an, als wäre die
Oberfläche poliert. Sie sah anders aus als die übrige Wand.
Leyden sah zur Wand hoch. Das Zischen der Raketen hinter seinem Rücken störte ihn nicht. Er
trat nicht einmal überrascht zurück, als er dicht vor sich einen senkrechten Riß entdeckte, der
immer breiter wurde.
Tyll Leyden kümmerte sich auch nicht um das Schreien hinter seinem Rücken. Mit großer Spannung
verfolgte er, wie der Berg sich vor ihm öffnete.
Rechts und links knirschten Steine, als würden sie etwas zermahlen. Ein hundert Meter hohes,
doppelflügeliges Tor tat sich vor ihm auf. In einem Bogen schloß es in der Höhe ab.
Zwei schwarze Wandflächen, jede mehrere Meter dick, glitten seitwärts.
Auf vierzig Meter Breite schätzte Leyden die Öffnung, als die beiden Schiebetore sich nicht
mehr bewegten.
Er sah in einen vierzig Meter breiten Gang, in dem es taghell war. Ein Gang, der tief in den
Achttausender führte und dessen Ende Leyden von seinem Standort aus nicht sehen konnte.
Hinter seinem Rücken hörte er die Schritte vieler Männer. Er drehte sich um.
»Oooh …«, sagte er und wischte sich über die Augen.
Er suchte die Stadt. Jetzt erst vermißte er das Donnern der Kanonen.
Er gab keine Stadt mehr. Es gab nur jene Ruinen, die sie bei der Landung mit der EXPLORER-2115
vorgefunden hatten.
Auch der Fluß verschwand und jener Waldrand.
Die Vergangenheit lebte nicht mehr. Sie war schlagartig verschwunden, wie ES sie hatte
aufleben lassen.
Zwei Hände legten sich auf seine Schultern. Oberstleutnant Herzog stand vor ihm und strahlte
ihn an.
Die Erschütterung steckte allen noch in den Gliedern. Sie hatten die Rückkehr in
ihre Zeit viel eindringlicher erlebt als Tyll Leyden.
Vor ihren Augen waren die beiden Gasraketen verschwunden. Gleichzeitig begannen sich die
Konturen der aufgefahrenen Kanonen zu verwischen. Die niedrigen Häuser mit ihren Rundfenstern und
Kreistüren bekamen ein unwirkliches Aussehen. Das Donnern der Kanonen wurde leiser und leiser.
Und dann brach vor ihren Blicken alles zusammen.
Die Eingeborenen verschwanden, die Stadt mit ihrer Ringmauer. Von den beiden Türmen blieben
nur die Ruinen des etwas niedrigeren Turmes übrig. Dort hinten, zwischen verwittertem Gestein,
stand der Sondenbohrer. Neben ihm bewegten sich jetzt wieder die Arbeiterroboter.
Der Fluß hatte sich vor ihren Augen aufgelöst. Ihre EXPLORER-2115 stand wieder mit den
Teleskopauslegern auf Fels. Im großen Bogen um das Schiff stand die Energiewand.
Das war die eine Seite des ablaufenden Vorgangs gewesen. Die andere hatte die Männer nicht
weniger beeindruckt: zu sehen, wie die schwarze Wand sich nach beiden Seiten öffnete, wie der
dunkle Fels weiter und weiter zurückglitt und ein hundert Meter hohes und vierzig Meter breites
Bogentor sie einlud, in den Berg hineinzugehen.
»Halt!« hatte Thomas Herzog gerade befohlen. »Wenn ich auch
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