Silberband 099 - Treibgut der Sterne
Ding frei vor ihm stand, dann kniete er nieder, schloss die Augen und ließ die Fingerspitzen darüber hinweggleiten. Es handelte sich um eine Plastik aus einem grünlich schillernden Material.
Virna erschien die Skulptur abstrakt. Am ehesten assoziierte sie damit noch eine abgebrannte Kerze ohne Docht, an der das flüssige Wachs nicht heruntergeronnen, sondern nach oben geflossen war. Der ›Kerzenstummel‹ selbst wies nur Rillen wie eine Holzmaserung auf, die in die Höhe strebenden ›Wachsbahnen‹ erschienen unförmig und rau.
Harzel-Kold erhob sich. Virna erkannte, dass sich seine Erregung gelegt hatte. In sein Gesicht war nicht die gewohnte Melancholie zurückgekehrt, es zeigte vielmehr einen Anflug von Zorn.
»Das ist eine Fälschung«, konstatierte er.
»Nein, nicht, nein«, sang der Zwotter, der die Skulptur gebracht hatte. »Echt-Psychod! Nicht aber nimmer fälschlicher und zwingend schönvoller Psychod.«
»Nicht mit mir!« Harzel-Kolds Zorn war schnell verraucht, sein Blick wurde wieder schwermütig, und Virna erschien es, als lägen Trauer und Enttäuschung darin. »Das ist eine Fälschung. Entweder dieser Gauner bringt mir das Original, oder wir kommen nicht ins Geschäft.«
Zwischen Blinizzer und dem anderen Zwotter entspann sich ein Duett, das damit endete, dass sie die Skulptur wieder verpackten und gemeinsam aus dem Haus schafften.
»Bist du sicher, dass es eine Fälschung ist, Harzel?«, fragte Virna, aber er schien sie nicht zu hören.
»Mir tun die Zwotter leid«, sagte er wie zu sich selbst. »Sie können zwar die Kunstwerke ihrer Ahnen nachbilden, aber sie haben nicht den Schöpferfunken wie diese. Sie haben nicht einmal die Fantasie, um eigene Werke zu erschaffen. Natürlich muss es ein Original geben, nach dem der Zwotter eine Kopie angefertigt hat. Äußerlich unterscheiden sich beide überhaupt nicht voneinander. Der Unterschied liegt tiefer – nicht in der optischen Erfassung, sondern in der geistigen.«
»Woran hast du die Fälschung erkannt, Harzel?«
»Das Ding war tot, unbeseelt. Die Kunst der Prä-Zwotter hat ihre unverkennbare Ausstrahlung. Die Zwotter sind für diese parusischen Sendungen leider überhaupt nicht empfänglich, deshalb glauben sie, mich mit Fälschungen täuschen zu können. Komm, Virna, ich werde dir zeigen, was den Wert der Prä-Zwotter-Kunst ausmacht.«
Er zog sie mit sich. Durch einen breiten, niedrigen Gang ohne Türen, der nach etwa fünfzig Metern vor einem Panzerschott endete.
»Das ist der Zugang zu meinem Heiligtum«, sagte Harzel-Kold. »Kein Mensch außer mir hat es je betreten. Du bist die Erste, die diese Wunderwerke schauen und fühlen soll.«
Er öffnete das schwere Schott. Virna schauderte, als ihr kalte, modrige Luft entgegenschlug.
Die automatische Beleuchtung ließ sie ein riesiges, von dicken Säulen getragenes Gewölbe sehen. Podeste mit fremdartigen Plastiken darauf bestimmten das Bild, der Boden war teilweise mit Reliefplatten belegt, an den Wänden hingen meist großformatige Bilder, die so echt wirkten, dass Virna glaubte, durch Fenster in eine fremde und unverständliche Welt zu blicken.
Hinter ihr schloss sich das Schott mit einem leisen Seufzer. Von irgendwoher drang ein Wispern in ihren Kopf und verwirrte ihren Geist. Panik ergriff von ihr Besitz.
»Ich sehe es dir an, Virna, dass du die parusischen Sendungen der paraplasmatischen Exponate empfängst.« Harzel-Kold drückte ihre Hand. »Aber deine Angst ist unbegründet. Wenn du öfter mit mir hierherkommst, wirst du erkennen, dass nichts Unheimliches oder Bösartiges in den Sendungen liegt. Jetzt bin ich sicher, dass du den Weg zur Erleuchtung mit mir gehen wirst.«
»Lass mich hier heraus!«, bat Virna verzweifelt. »Ich ertrage das nicht länger.«
»Pst, kleine Virna«, flüsterte er zärtlich und drückte sie an sich. »Wenn du die erste Panik überwunden hast, wirst du den eigentlichen Wert der Sendungen erkennen. Mir erging es nicht anders …« Sie war ihm dankbar, dass er den Arm um sie schlang. Sein Körper war der einzige Wärmequell an diesem von unheimlichem Leben beseelten Ort der Kälte.
Harzel-Kold führte sie zu einer Wand, an der ein monumentales Gemälde hing. Es war bestimmt sieben Meter lang und beinahe halb so hoch, und auf den ersten Blick stellte es nur eine Fülle verschiedenfarbiger Linien dar.
»Sieh hin, Virna!«, verlangte er beschwörend und hielt ihren Kopf fest, als sie sich abwenden wollte. »Werde Zeuge einer wundersamen
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