Silberband 101 - Eiswind der Zeit
fließenden Gewand.
Hatte Roctin-Par auf Harnos Oberfläche nicht eine ähnliche Gestalt gesehen?
Hotrenor-Taak kam nicht mehr dazu, Harno diese Frage zu stellen, denn von der anderen Seite her näherten sich Männer und Frauen in unterschiedlicher Kleidung. Die Männer trugen teilweise einfache Lendenschurze, die seitlich durch Bänder zusammengehalten wurden. In ihren Gürteln steckten breite, kurze Messer. Die Frauen hingegen waren durchwegs in Kleider oder kurze Röcke gehüllt. Sandalen schützten ihre Füße.
Hotrenor-Taak konnte sich nicht verbergen. Die nächsten schützenden Büsche waren zu weit entfernt und die Näherkommenden bereits in Sichtweite. Er wich lediglich ein Stück weit zur Seite. Doch die Männer, die vorangingen, achteten nicht auf ihn oder Harno, der in zwei Metern Höhe in der hitzeflirrenden Luft schwebte.
Der Lare hob seine Hände zum Zeichen des Friedens und trat auf die Männer zu. Doch ehe er ein Wort der Begrüßung sagen konnte, geschah etwas Unbegreifliches. Die Männer gingen weiter – sie gingen durch ihn hindurch.
Hotrenor-Taak wich fassungslos zur Seite. Fast wäre er über einen Stein gestolpert, aber er fing sich im letzten Augenblick und setzte sich. »Sie sind … nicht wirklich«, ächzte er. »Geister, Dämonen! Gespenster ohne Fleisch und Blut! Harno, was ist los?«
Er sprach laut, aber keiner drehte sich nach ihm um. Diese Frauen und Männer mussten Terraner sein, wenn sie auch ein wenig anders aussahen als jene Terraner, die Hotrenor-Taak kannte. Sie waren etwas kleiner, ihre Haut schimmerte wie Bronze, und sie hatten lange, blonde Haare. Die Gesichter waren scharfkantig und von außergewöhnlicher Ebenmäßigkeit. Sie waren – schön.
Oh doch, Hotrenor-Taak, sie sind Wirklichkeit und in dieser Zeit vorhanden. Aber wir sind es nicht! Die Gespenster sind wir! Sie sehen und hören uns nicht, wir sind wie Luft für sie. Wir sind aus einer anderen Zeit, die für sie noch fernste Zukunft ist, und wenn wir auch hierher versetzt wurden, so materialisierten wir nicht. Wir sind nichts als unbeteiligte Zuschauer.
»Sie nehmen uns nicht wahr? Sie könnten uns nichts anhaben?«
So ist es! Umgekehrt haben auch wir keinen Einfluss auf sie und auf das, was sie tun. Wir können nicht in die Geschehnisse eingreifen. Das ist eine natürliche Sperre, die ein Paradoxon verhindert.
»Die ideale Zeitreise also«, stellte der Lare fest. »Allerdings eine unkontrollierte und gegen unseren Willen. Wer ist der Große Unbekannte, der das veranlasst?«
Ich weiß nicht, wiederholte Harno. Aber ich weiß, dass es nicht ohne Grund geschieht. Wir sollen beobachten, was geschieht. Jemand benötigt diese Information. Wir müssen tun, was er – oder es – von uns verlangt.
»Gehen wir in den Tempel«, schlug Hotrenor-Taak vor.
Geh allein, ich bleibe zurück. Dir kann nichts geschehen.
»Du wirst hier warten?«
Ich werde immer bei dir sein, gab Harno geheimnisvoll zurück.
Der Lare zögerte nur eine Sekunde, dann schritt er langsam den Pfad zu dem Tempelpalast hinauf, wo der Gesang lauter geworden war.
Die Frau in dem langen, fließenden Kleid war eine Schönheit. Sie stand auf dem Podium wie eine Göttin, und ihre bronzefarbene Haut schimmerte durch den Stoff ihres Gewandes. Das lange Haar fiel weit über ihre Schultern hinab, und ihr klassisches Profil verriet Stolz. Hotrenor-Taak bedauerte für einen Moment, keiner ihrer Priester zu sein, die ehrerbietig vor ihr knieten und ihr Opfergaben darboten.
Ohne aufgehalten zu werden, war er an den Wachen vorbeigegangen, die zwischen den Säulen standen. Sie waren die einzigen Männer, die andere Waffen als nur Messer trugen. Die Spitzen ihrer Wurfspeere schienen vergoldet zu sein, sie schimmerten im Licht der hochstehenden Sonne.
Nun stand der Lare inmitten der Menge, die der Schönheit huldigte. War sie ihre Göttin oder nur ihre Oberpriesterin?
Im Hintergrund der weiten Halle hatten sich im Halbkreis die schönsten Mädchen gruppiert, die Hotrenor-Taak je zu Gesicht bekommen hatte. Ihr eintöniger Gesang wirkte einschläfernd und zugleich hypnotisierend. Die Menge wiegte sich im Takt.
Unwillkürlich wiegte der Lare sich mit, wobei er hin und wieder in den Körper einer der neben ihm stehenden Personen eindrang, ohne dass diese auch nur das Geringste davon bemerkt hätten. Es war eine gespenstische Situation.
»Was singen sie, Harno?«
Sie beten ihre Göttin an. Eine Kulthandlung, geschehen vor vielen Tausend Jahren. Sie
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