Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
sind.«
Pankha-Skrin machte eine abwehrende Bewegung. »Wenn du Hunger und Durst empfindest, mein Freund, dann greif zu. Ich kann lange Zeit ohne Nahrung auskommen. Kümmere dich nicht um mich. Ein wenig Ruhe wird mir jedoch guttun. Wecke mich, wenn Außergewöhnliches geschieht.«
Pankha-Skrin faltete die Greifarme unter den Schwingen und zog die beweglichen Augen ein. Das waren die äußerlichen Zeichen, dass er ruhte.
Der Humpelnde Tantha machte sich über die Vorräte her und aß und trank. Danach fühlte er sich müde. Er fragte sich, wie wichtig es sein möge, dass er die Augen offen hielt. Er kam zu dem Schluss, dass außergewöhnliche Ereignisse entweder ihn oder den Loower wecken würden. Also streckte er sich auf dem Felsboden aus und war wenig später eingeschlafen.
Nach zwei Stunden erwachte Pankha-Skrin aus dem Tiefschlaf, der ihn ungemein erfrischt hatte. Als Loower, der keine Übergangsphase zwischen Schlaf und Wachen kannte, war er sofort hellwach.
Pankha-Skrin sah sich um und erkannte, dass das Zeichen gegeben worden war.
Die Gabelung des Stollens war verschwunden. Der Gang erstreckte sich nach rechts und links, so weit der Blick reichte. Von einer Verzweigung war keine Spur mehr.
Pankha-Skrin fuhr die Augen ein und rief sich in Erinnerung zurück, wie die Szene zuvor ausgesehen hatte. Er hatte es sich an der rechten Gangwand wenige Schritte vor der Gabelung bequem gemacht. Von dort, wo er saß, hatte er den rechten Teil der Gabelung nur dann sehen können, wenn er die Augen auf ihren Stielen ein wenig zur Seite drehte. Den linken Zweig dagegen hatte er ohne Drehung einsehen können.
Also war der rechte Teil der Gabelung verschwunden. Denn Pankha-Skrin konnte den Gang entlangschauen, ohne die Augen zu bewegen.
Jetzt erst richtete er sich auf. Der Humpelnde Tantha schlief noch friedlich.
Pankha-Skrin klopfte die rechte Wand des Stollens ab. Mit keinem Geräusch verriet der Fels, dass es hier einen Zweiggang gegeben hatte. Zu erkennen, dass sein Bewusstsein so nachhaltig irregeführt werden konnte, bereitete dem Quellmeister kein Vergnügen. Er hatte sich für nahezu unbeeinflussbar gehalten. Hier waren demnach Mächte am Werk, die in gewisser Weise selbst dem Bewusstsein eines Loowers überlegen waren.
»Ich habe das Zeichen empfangen«, sagte er leise, um Tantha nicht zu wecken. »Ich weiß, wohin ich mich zu wenden habe. Du kannst den Bann getrost entfernen.«
Er bekam keine Antwort.
»Du könntest dir viel Mühe sparen und in der Zwischenzeit wesentlich erfreulicheren Beschäftigungen nachgehen, würdest du zur Kenntnis nehmen, dass ich mich von dir nicht narren lasse«, fuhr Pankha-Skrin fort. »Du bist ein Meister der Suggestion. Aber wir Loower, die schon lange vor euch Freibeutern da waren, verstehen, unseren Verstand zu gebrauchen.«
Er hörte ein hauchendes Seufzen und wusste, dass der Geist ihn verstand. Einen Atemzug lang kämpfte er gegen die Versuchung, Mitleid mit dem Körperlosen zu empfinden, doch er widerstand dieser Regung. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die seine gesamte Aufmerksamkeit verlangte. An den Belangen der Entkörperten Anteil zu nehmen, vertrug sich nicht mit dem Gebot der höchsten Konzentration. Pankha-Skrin glaubte, das grausame Spiel zu durchschauen, das Murcon mit den Anführern seiner treulosen Gäste seit unvorstellbar langer Zeit spielte. Der Quellmeister weigerte sich indes, die Schuldfrage zu stellen. Die Antwort, so redete er sich ein, wäre für ihn ohne Bedeutung.
»Ich höre dich«, sagte er ebenso leise wie zuvor. »Wir müssen nicht Feinde sein. Wenn wir aneinandergeraten sind, dann nur, weil ich es für meine Pflicht hielt, unschuldiges Leben zu schützen. Geh mir aus dem Weg und lass mich in Frieden!«
Der Seufzer erklang ein zweites Mal, lauter diesmal und mit demselben Effekt, den der Quellmeister zuvor schon wahrgenommen hatte: Der Geist schien sich in aller Eile zu entfernen.
Die Gabelung erschien wieder in Pankha-Skrins Blickfeld. Es war der rechte Zweig, den der Geist durch suggestive Beeinflussung hatte verschwinden lassen. Der Quellmeister und sein Begleiter hatten in den linken Zweig gelockt werden sollen.
Pankha-Skrin rüttelte den schlafenden Tantha an der Schulter.
»Wie … wa… was …?« Ächzend stemmte sich der Zaphoore in die Höhe.
»Es geht weiter!«, sagte der Quellmeister.
»Du hast das Zeichen erhalten?«
»Mit ausreichender Deutlichkeit.«
10.
Murcon: Revolte und Strafe
In der Halle des blauen
Weitere Kostenlose Bücher