Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
Gefangenen weiter an. Sie bedrängten Tanniserp, er solle ihnen das Zeichen zum Losschlagen geben. Tanniserp gab dem Drängen schließlich nach.
In sehr kurzer Zeit brachten die Freibeuter das Energiefeld zum Zusammenbruch. Der Effekt im Augenblick der Vollresonanz war längst nicht so stark, wie Tanniserp befürchtet hatte. Die Freibeuter überstanden die Energieflut unbeschadet.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderttausenden waren sie frei.
Sie brauchten geraume Zeit, sich an die neu gewonnene Freiheit zu gewöhnen. Dabei stellten sie fest, dass es nur eines Wunsches bedurfte, den Geist in Bewegung zu setzen und Geschwindigkeit und Richtung zu bestimmen. Aber selbst im immateriellen Zustand waren sie nicht in der Lage, feste Materie zu durchdringen.
Noch etwas wurde ihnen klar: Das blaue Energiefeld hatte sie in der Tat nicht nur eingesperrt, sondern die Funktionen ihres Geistes erhalten. Die Freibeuter spürten, dass sie langsam, aber durchaus wahrnehmbar an Kraft verloren. Sie mussten sich beeilen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten.
Durch einen langen Stollen drangen sie in die Richtung vor, in der sie Murcon zu finden hofften. Der Burgherr hatte in ihren zahllosen Unterhaltungen oft von der großen Halle gesprochen, in der er wohnte.
Am Ende des Stollens gerieten die Geister an ein großes Tor aus goldfarbenem Metall. Ein unüberwindliches Hindernis, denn sie verfügten über keinerlei physische Kräfte, um es zu öffnen. Verzweifelt wollten sie nach einem anderen Weg in die große Halle suchen, als unerwartet Unterstützung kam. Aus dem Stollen, den sie selbst benutzt hatten, näherte sich ein Trupp weißhäutiger Wesen, die in wallende Gewänder gehüllt waren. Sie bewegten sich im Gleichschritt und gaben einen eintönigen, rhythmischen Gesang von sich. Sie hatten Kapuzen über die Köpfe gezogen und den Blick zu Boden gerichtet. Ihr Gehabe war das von Pilgern oder Priestern, die einen religiösen Ritus zelebrierten.
Die sechs Freibeuter verstanden die Sprache der Weißhäutigen mühelos – es war ihre eigene Sprache, wenn auch in vielen Jahrtausenden abgeschliffen und modifiziert. Zum ersten Mal wurde den Geistwesen bewusst, wie viel Zeit seit ihrer Gefangennahme verstrichen war. Die Weißhäutigen waren ihre eigenen Nachfahren, um Hunderte Generationen von ihnen entfernt.
Die Vermummten öffneten das goldene Tor. Sie konnten die Geistwesen nicht wahrnehmen, auch nicht, als diese mit ihnen durch die offene Pforte in die große Halle eindrangen. In der Mitte erhob sich ein steinernes Piedestal, auf dem der ungeschlachte Körper eines Tieres ruhte.
Der Gesang der Weißhäutigen wurde lauter. Sie führten Verbeugungen aus, die offenbar der monströsen Tiergestalt Ehrfurcht bezeugen sollten. Das Ungeheuer aber nahm weder von den Vermummten noch von ihrem Gesang Notiz. Es wirkte leblos.
Der Gesang endete nach einiger Zeit. Die Weißhäutigen zogen sich in den Hintergrund der Halle zurück und verschwanden dort durch eine kleine Pforte, die aus demselben goldfarbenen Metall bestand wie das Eingangsportal.
»Was soll das bedeuten?«, fragte Arqualov. »Was ist das für ein hässliches Tier – und wo ist Murcon?«
Er erhielt sofort Antwort.
»Das Tier ist meine Schöpfung!«, donnerte Murcons Stimme durch die Halle. »Ich nenne es Kukelstuuhr. Es ist von höchster Vollkommenheit und bedarf nur noch des Lebensfunkens, um zu dem mächtigsten Geschöpf im Universum zu werden!«
Die Worte erklangen in den Bewusstseinen der sechs Freibeuter, und das Entsetzen lähmte ihre Gedanken. Die gewaltigen Sonnenlampen wurden düster, ihr Licht nahm eine blaue Färbung an. Die Freibeuter spürten, dass eine Lähmung sie überkam.
»Ihr kommt wie Diebe in der Nacht, um euch an dem Mächtigen zu rächen«, höhnte Murcon. »Doch eure gedankenlosen Gehirne wissen nicht einmal, woher ihr die Kraft dazu nehmen wollt. Hätte ich nicht meine Diener geschickt, das goldene Tor für euch zu öffnen, ihr hättet nicht einmal diese Halle betreten können.
Ihr Narren. In eurer Rachsucht bildet ihr euch ein, den Mächtigen Murcon hinters Licht führen zu können. Dabei kenne ich jeden eurer Gedanken, und mit euren langwierigen Vorbereitungen habt ihr mir mehr Unterhaltung bereitet, als ich je erwartet hätte.
Ihr habt euch die Freiheit hart erkämpft – behaltet sie. Aber ihr wisst, dass auch der Geist der Nahrung bedarf. Das Feld, in dem ihr gefangen wart, hat sie euch zugeführt. In der Freiheit müsst ihr euch selbst
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