Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
gelassen? Musstet ihr eure langen Nasen in mein innerstes Sanktum stecken, in dem ich für alle Zeit Ruhe vor euch zu haben glaubte?«
In einer Geste, die besänftigend wirken sollte, hob Arqualov beide Arme.
»Es liegt uns nichts daran, dich zu stören! Wenn du dich nach Ruhe sehnst, wollen wir dir Ruhe gönnen. Aber du bist der Herr der Burg. Warum willst du dich hier unten verstecken, während …«
»Sei still, du Wurm!«, grollte Murcon. »Glaubst du, ich wüsste nicht, wie treulos ihr an mir handeln wolltet? Ja – ich sehne mich nach Ruhe. Und ich werde sie mir beschaffen. Gleichzeitig werde ich dem Universum zeigen, wie es dem ergeht, der dem Mächtigen Murcon Gastfreundschaft mit Untreue dankt!«
Das Licht wurde intensiver, die Lampen strahlten nun ein tiefes Blau aus. Ein intensives Summen erhob sich, das jeden Körper bis in die letzte Nervenfaser durchdrang. Arqualov schrie auf, als er spürte, dass er die Kontrolle über seine Muskeln verlor. Er wollte sich herumwerfen und irgendwohin fliehen, aber das Summen wurde stärker und saugte ihm die Kraft aus dem Körper. Arqualov erstarrte in der Bewegung. In dem düsterblauen Licht sah er, dass es seinen Gefährten nicht anders erging.
»Ruhe brauche ich!«, sagte Murcons Stimme. »Doch absolute Ruhe ist dem Verstand abträglich. Ich brauche Entspannung und etwas, an dem ich mich vergnügen kann. Dafür kommt ihr Treulosen mir gerade recht. Sperrte ich euch einfach ein, dann ginget ihr in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren den Weg aller Sterblichen, und ich hätte obendrein noch die Mühe, eure Leichen zu beseitigen. Ich aber bin unsterblich, also bedarf ich unsterblicher Vergnügung. Ich will euer Bewusstsein aus der vergänglichen Hülle befreien. Ich verleihe euch Unsterblichkeit! Ihr werdet von nun an bis in Ewigkeit nichts anderes sein als Objekte, an deren Anblick ich mich erfreuen kann. Das sei eure Strafe für die Untreue, die ihr an mir begangen habt.«
Arqualov reagierte so voller Panik, dass er die Worte kaum verstand. Er hatte noch nicht aufgegeben, sich mit aller Kraft gegen die Bewegungslosigkeit zu stemmen. Aber die Muskeln gehorchten ihm nicht mehr.
Ein entsetzlicher Schrei gellte durch das tiefblaue Halbdunkel. Arqualov sah auf, soweit es ihm noch möglich war. Irritt erschien ihm durchsichtig. Ihre Umrisse wurden nebelhafter, undeutlicher. Ehe Arqualov sich besinnen konnte, war die Gefährtin seines Lebens verschwunden. Eine fürchterliche Angst kroch in Arqualov empor. Mit letzter Kraft wandte er den Blick seitwärts und sah eben noch, wie eine schattenhafte Gestalt, die Sinqualor gewesen sein musste, sich auflöste.
Arqualov schrie, aber kein Laut kam über seine Lippen. Die unselige Bedeutung, die er zuerst nicht verstanden hatte, wurde ihm jetzt bewusst: »… aus der vergänglichen Hülle befreien!«
Er blickte an sich hinab. Da war nichts mehr. Der Körper, der seit hundert Jahren seinem Bewusstsein als Heim gedient hatte, war verschwunden.
Der Schock war so gewaltig, dass Arqualovs Verstand vorübergehend die Tätigkeit einstellte. Tiefes Schweigen herrschte in der von düsterblauem Licht erfüllten Kammer, in der Murcon die Strafe an den Übeltätern vollstreckt hatte.
Verblüfft stellte der Humpelnde Tantha fest, dass Pankha-Skrin die Suche keineswegs mit großem Eifer betrieb. Der Quellmeister hatte es sich auf dem felsigen Boden bequem gemacht und überließ das Forschen scheinbar nur seinem Verstand.
»Wie lange, meinst du, werden wir noch warten müssen?«, fragte Tantha.
»Ich weiß, dass du ungeduldig bist«, erwiderte Pankha-Skrin. »Aber Ungeduld bringt uns nicht weiter. Die Mächte, mit denen wir zu tun haben, denken und empfinden in langen Zeiträumen. Sie überstürzen nichts. Also sollten auch wir an uns halten, bis die rechte Zeit gekommen ist.«
»Woher nimmst du die Sicherheit, dass es überhaupt ein Zeichen geben wird?«
»Ich bin meiner Sache keineswegs so sicher, wie du meinst. Ich glaube allerdings, ein Schema zu erkennen. Die Schleierkuhle ist so angelegt, dass nur der, der seinen Verstand zu gebrauchen weiß, eindringen kann. Die erste Prüfung waren die beiden Pforten. Die zweite Prüfung findet hier statt. Es kann durchaus sein, dass ich mich täusche. Ich bin bereit, zwei oder drei Tage zu warten. Wenn bis dahin nichts geschehen ist, werden wir den Weg aufs Geratewohl fortsetzen.«
»Zwei oder drei Tage?« Tantha seufzte ergeben. »Vergiss nicht, dass unsere Vorräte begrenzt
Weitere Kostenlose Bücher