Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
Leuchtens schien das Schicksal Arqualovs und seiner Freunde besiegelt. Sie waren körperlos. Eine Kraft, die sie nicht kannten und die nur dem Mächtigen zur Verfügung stand, hatte sie ihrer materiellen Substanz beraubt.
In ihrer körperlosen Daseinsform empfanden die Freibeuter weder Schmerz noch Müdigkeit, weder Hunger noch Durst. Als sie die Nachwirkungen des Schocks überwunden hatten, stellten sie fest, dass sie sich miteinander unterhalten konnten.
Sie merkten auch bald, dass Murcons Drohung ernst gemeint war, er werde sein Vergnügen an ihnen haben. Der Herr der Burg machte es sich zur Gewohnheit, in ihre vertrautesten Gespräche hineinzuplatzen und sie wissen zu lassen, dass er jeden ihrer Gedanken hören konnte.
Für die gefangenen Freibeuter wurde die Welt zur Hölle. Ihnen blieb als einzige geistige Betätigung der Gedankenaustausch untereinander. Doch die Gewissheit, dass ausgerechnet der, dem sie diese Situation verdankten, an jedem ihrer Gedanken teilhatte, war eine Quelle unsäglicher Pein.
Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als müssten sie unter dem seelischen Druck zerbrechen. Bevor es jedoch dazu kommen konnte, rebellierte ihr störrischer Geist. Sie fingen an, nach Auswegen aus ihrem Dilemma zu suchen. Sie führten weiterhin belanglose Gespräche, die Murcon belauschen durfte, aber im tiefsten Innern des Bewusstseins, das Murcon nicht erreichen konnte, schmiedete jeder Pläne, die von der Sehnsucht nach Rache und nach Freiheit erfüllt waren. Sie kannten einander gut genug, um zu wissen, dass sie alle an dasselbe dachten.
Eines Tages unternahm Arqualov den Versuch, eine Kodesprache zu entwickeln, mit deren Hilfe sie Gedanken über ihr geheimstes Anliegen austauschen konnten, ohne von Murcon abgehört zu werden. Dieser Versuch erwies sich beizeiten als erfolgreich. Stück für Stück bauten sie die Kodesprache auf, keine Vorsichtsmaßnahme außer Acht lassend und mit der unendlichen Geduld körperloser Wesen, denen tausend Jahre wie ein Tag waren.
Sie schufen die Möglichkeit, sich unbehindert zu unterhalten. Damit erhielten sie Gelegenheit, die Einzelpläne, die jeder für sich selbst entwickelt hatte, zu einem Gesamtplan zu vereinigen.
Den wertvollsten Beitrag lieferte Tanniserp, der ehemalige Orteroffizier. Er hatte von allen die besten technisch-wissenschaftlichen Kenntnisse. Tanniserp war zu dem Schluss gelangt, dass das blaue Leuchten nicht allein der Erhaltung der substanzlosen Körper diente, sondern zugleich ein Fesselfeld darstellte, das die entkörperten Freibeuter an Ort und Stelle bannte. Sein Plan lief darauf hinaus, das blaue Energiefeld zu zerstören. Dabei war er bereit, das Risiko einzugehen, dass sein immaterielles Dasein ausgelöscht würde, falls sich kein Ersatz für den erhaltenden Einfluss des Energiefelds finden ließ.
»Was ist das für ein Leben?«, fragte er. »Wenn es für mich keine weitere Aussicht gäbe, als bis in alle Zeit an dieses blaue Feld gefesselt zu sein, dann wäre ich lieber tot!«
Er fand volle Zustimmung. Die Freibeuter konzentrierten sich darauf, Wege zu finden, wie das blaue Energiefeld zerstört werden konnte.
Geraume Zeit verging – Jahrzehntausende auf der Skala körperlicher Wesen –, und die fruchtbarsten Anregungen kamen aus Tanniserps Bewusstsein.
Er sah vor, dass das blaue Energiefeld durch einen Resonanzeffekt zum Einsturz gebracht werden solle. Dafür mussten die Eingeschlossenen ihre Bewusstseine in Schwingungen versetzen, indem sie in rascher Folge abwechselnd einen Gedanken mit höchster Intensität formulierten und danach alle Denktätigkeit abrupt abschalteten. Tanniserp hatte seine Mitgefangenen gewarnt, dass in dem Augenblick, in dem das Feld zusammenbrach, eine Flut von Mentalenergie auf sie einströmen werde. Schädlichen Folgen war am besten zu entgehen, indem jeder die Flut in der ersten Sekunde voll auf sein Bewusstsein einwirken und eine Ohnmacht induzieren ließ.
Als die Zeit gekommen war, versetzten die Freibeuter ihre Bewusstseine in rhythmische Schwingung. Der Gedanke, den sie intensiv dachten, entsprang ihrer Wunschvorstellung: Murcon muss sterben!
Das Energiefeld zum Schwingen zu bringen war ein langwieriger Prozess. Tagtäglich während dieser langen Zeitspanne drang Murcons Stimme zu den sechs Gefangenen. Murcon redete über unverfängliche Dinge. Aus keinem seiner Worte ging hervor, dass er von den gefährlichen Aktivitäten der Freibeuter wusste. Die Gespräche mit Murcon fachten den Hass der
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